Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Wieder richtig „attracktiv“, das
Der Nürburgring sah Fangios Parforcefahrt und Schumachers Alesi-Attacke, jetzt ist er noch einmal Formel-1-Gastgeber
Das Grußwort des Kanzlers zierte ein Druckfehler: Die „Attraktivität der Eifel-Region“war im offiziellen Programm des Großen Preises von Europa zur „Attracktivität“geraten, wie englisch „track“= Rennstrecke. Freud ließ grüßen – erhoffte sich Helmut Kohl in den späten Septembertagen 1995 eine „Erhöhung“jener Attraktivität doch just durch den Nürburgring. Genauer: durch Formel-1-WM-Läufe daselbst. Verwöhnt worden war der Landstrich zwischen Bad Neuenahr und Daun, zwischen Mayen und Adenau diesbezüglich nicht in den Motorsportjahren zuvor. Letztmals am Fuß der Nürburg Station gemacht hatte die Elite der Berufskraftfahrer 1985; fortan bevorzugte man das profitablere Hockenheim. Die 84 Millionen D-Mark, für die nach Niki Laudas Feuerunfall und dem Fahrer-Veto gegen die Nordschleife ein kürzerer, sicherer GrandPrix-Kurs gebaut worden war, brachten vorerst wenig Rendite; zwei Gastspiele nur gaben Senna, Piquet, Prost und Kollegen. Der Ring lag brach.
Bis 1994 ein Kfz-Mechaniker aus Hürth-Hermülheim Formel-1-Weltmeister wurde, bis Deutschland, einig Schumiland, dem Hockenheimring Fan- und RTL Quotenrekorde bescherte. Da witterte PS-Impresario Bernie Ecclestone Großes. Walter Kafitz auch. Der war als Geschäftsführer der Nürburgring GmbH noch recht neu, hatte 1977 seinen Dr. rer. oec gemacht, fortan Kaffee (Jacobs), Waschpulver (Henkel), Schuhcreme (ErdalRex), Möbelpolitur (Johnson wax) und zuletzt die Fliesen eines eifelländischen Keramikherstellers unter seine Mitmenschen gebracht. Sein finales Zögern vor Jobantritt, heißt es, habe eine halbe Nordschleifenrunde beendet. Walter Kafitz war infiziert, wollte den Ring auf Kurs bringen. Die Formel 1 kam da gerade recht, Bernie E. kam da gerade recht. Man wurde sich einig (was später nicht mehr so oft gelang) – und belohnt: 91 000 Zahlende am Rennsonntag, Regen bis zum Start, dezent trocknend nur der Asphalt, Duelle satt und d-a-s Manöver der Saison: Michael Schumacher, zur Hälfte der Distanz 37,488 Sekunden hinter Jean Alesi, überholt den Franzosen (der Kampflinie fährt) im engen Veedol-Z außen. Zwei Umläufe vor Ultimo. Der Sieg. Ins Ziel gebracht mit 2,684 Sekunden Vorsprung. Der renommierte Motorsport-Journalist Alan Henry wird hernach im „Guardian“schreiben: „Er hat heute die Linie überschritten, die die Guten von den Besten trennt.“
Zu den Besten gehörte, lange vorher, auch Juan Manuel Fangio. 1957, als die Formel 1 das sechste Mal die damals noch 22,772 Kilometer Nordschleife unter die Räder nahm, gewann der Argentinier das Rennen und, vorzeitig, seinen fünften Weltmeistertitel.
Aber wie: 46 ist Juan Manuel Fangio bereits, zu absolvieren sind 22 Runden. 500,984 Kilometer. Eine Strapaze. Zumal für „El Chuecos“Maserati. Die 260 Liter Sprit, die dessen Tank fasst, reichen dem durstigen Motor nicht für das gewaltige Pensum, die Hinterreifen sind überdies kleiner dimensioniert als die der Ferraris. Also: schnellerer Verschleiß. Also: Boxenstopp! Kein alltägliches Vorgehen damals, die Zuschauer schwanken zwischen Erstaunen und Entsetzen. Komfortable 28 Sekunden Abstand zu seinen Gegenspielern in Rot, Mike Hawthorn und Peter Collins, nimmt Juan Manuel Fangio mit zum Service; nach 51 Sekunden kommt er als Dritter zurück auf die Strecke. Bleibt erst verhalten, forciert alsbald das Tempo. Runde 15 ff. sind mit „Parforcefahrt“nicht annähernd beschrieben. 3,6 Sekunden vor Mike
Hawthorn sieht Juan Manuel Fangio die karierte Flagge. Verbürgt sind die Sätze des Siegers danach: „Ich habe Dinge riskieren müssen wie nie zuvor. So möchte ich nicht mehr fahren.“Und: „An diesem Tag habe ich den Nürburgring erobert. Aber wäre es ein anderer Tag gewesen, dann hätte er vielleicht mich erobert, wer weiß?“
Verbürgt ist auch das Fangio’sche Faible für den Ort des Geschehens: „Der Nürburgring war für mich Liebe auf den ersten Blick. Wenn ein Freund dir von einem unbekannten Mädchen erzählt und sie in Wirklichkeit noch viel attraktiver ist – so ist es mir bei dieser Rennstrecke ergangen.“
So erging es – etliche Grands Prix später – immer weniger Menschen. Gut 52 000 nur waren 2013 Zeugen des bislang letzten, des 40. Ring-Formel-1-Rennens, an einem 7. Juli, an dem alles anders war. Fast alles – der
Sieger hieß Sebastian Vettel (das passierte zu seiner Red-Bull-Zeit regelmäßig), er wurde im gleichen Herbst Weltmeister (das passierte zu seiner Red-Bull-Zeit regelmäßig). Ein Arbeitstag in der Eifel bei Sonne und 26 Grad – auf dem Asphalt: 44! – dürfte auch für den hessischen Wahlschweizer Premiere gewesen sein, für das Publikum war es ein Abschiedsgeschenk. Bernie E. und deutsche Rennstrecken, das passte nicht mehr.
Der Nürburgring und eine überteuert anzuheuernde Formel 1, das passte auch nicht mehr. Den Zuschauerschwund in der Nach-SchumacherÄra kannte Hockenheim genauso, die immer höheren Antrittsgelder waren nicht mehr zu refinanzieren, die Zahlen wurden rot. Tiefrot am Nürburgring, wo zwischen November 2007 und Juli 2009 ein „ganzjähriges Freizeitund Businesszentrum“aus dem Boden gestampft wurde – mit „ring°racer“(einer Achterbahn, die von 0 auf 217 in 2,5 Sekunden beschleunigen sollte), „ring°werk“, „ring°arena“, „ring°boulevard“, mit Erlebnisgastronomie, Casino und Feriendorf. Festakt mit Landesvater Kurt Beck, Kosten per Eröffnungstag 258 Millionen Euro ... und eine Ministerkarriere. Die von Finanzminister Ingolf Deubel, Ring-GmbH-Aufsichtsratschef zugleich, der die einigermaßen dubiose private Finanzierung einigermaßen arglos vermittelt hatte: Sie platzte zur Unzeit. Der Anfang vom Ende. Investitionsruinen kommen in Visionen nicht vor. Im Leben schon. Walter Kafitz führt längst keine Geschäfte mehr, die Achterbahn achterbahnte nach technischem K.o. erst 2013 – für genau vier Tage. Da war das Insolvenzverfahren bereits eröffnet, der Verkauf eingeleitet. Stürmische Zeiten. Vergangene Zeiten. Der Nürburgring 2020 arbeitet seriös an seinem Kerngeschäft, kam durch die Corona-Ausfälle im Rennkalender unverhofft zum Formel-1-Revival.
Und freut sich. Finanziell risikofrei offenbar. Richtig „attracktiv“, das.