Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Rührei und Mehlwurm im Igelhimmel
Früher war Margot Ulrich aus Langenargen Hebamme – Im Ruhestand pflegt sie Igel – unter dem Eindruck einer traumatischen Kindheitserfahrung
Es ist spät am Abend, als es bei Margot Ulrich in Oberdorf bei Langenargen im Bodenseekreis klingelt. Ein Ehepaar steht vor der Tür, drückt der mittlerweile 80Jährigen ein Schächtelchen in die Hand. Darin vier Igel-Winzlinge, die ihr Hund aufgestöbert hat. Die Kleinen hängen noch an der Nabelschnur. „Das Ehepaar war besorgt, hat auf Hilfe gehofft“, berichtet Margot Ulrich von der Begegnung. Für die Igelexpertin ist nach einem Blick klar: Es pressiert. Sie nimmt die jeweils 40 Gramm leichten halbnackten Winzlinge in ihre Obhut. Anstrengende Zeiten stehen ihr bevor. Trotzdem wird Margot Ulrich wie schon so oft den Kleinen rund um die Uhr alle Liebe und Fürsorge zukommen lassen, sie hätscheln und pflegen. Und das fast Unmögliche schaffen: die nicht einmal fingergroßen Tierchen zu stattlichen Igeln heranzuziehen und auszuwildern.
Ortsbesuch bei der pensionierten Hebamme in ihrer Igel-Pflegestation, wo noch bis Ende Oktober Hochsaison für kleine Igel ist. Eine gepflegte Dame mit feinen Gesichtszügen und feingliedrigen Händen öffnet die Tür zu ihrer Wohnung. Erst bei näherem Hinsehen lässt sich erahnen, dass diese Hände nicht nur rund 5000 Menschenkindern auf die Welt geholfen und diese betreut, sondern seit 16 Jahren etwa 1500 Igeln eine Zukunft ermöglicht haben: Die Handinnenseiten zeigen Spuren von Igelstacheln. Mit bloßen Händen fasst Margot Ulrich ihre Schützlinge an. „An die Stacheln gewöhnt man sich“, meint sie schmunzelnd und legt sich Igelbaby Mecki in die linke Hand. Das schnüffelt mit seinem Näschen, schaut die Pflegerin mit kleinen dunklen Knopfaugen an. „Du hast wohl Hunger“, sagt die 80-Jährige lachend zu dem kleinen Tier. „Wir legen gleich los.“
Dass sich Margot Ulrich aufopferungsvoll ausgerechnet um die stachligen Gesellen kümmert, liegt an einem Erlebnis in ihrer Kindheit: Vor ihren und den Augen anderer Buben und Mädchen übergossen seinerzeit französische Besatzungssoldaten einen Igel mit Benzin, zündeten ihn an und spielten mit ihm Fußball. „Diese grausame Szene hat mich mein ganzes Leben begleitet“, sagt die Oberdorferin. Schon damals hat sie sich vorgenommen: Wenn ich in die Situation komme, dass ich Igeln helfen kann, dann tue ich es.
Bis dahin sollen Jahre ins Land gehen. Nach 40 Jahren Hebammentätigkeit in Stuttgart geht Margot Ulrich in Rente, kehrt nach Oberdorf zurück und legt bald vor dem Veterinäramt in Friedrichshafen eine Prüfung zur Igelpflegerin ab. Damit findet sie eine neue Lebensaufgabe.
Mecki, nicht einmal eine ganze Handvoll Igel, lässt Margot Ulrich derweil nicht aus den Augen. Das Igelmädchen und seine drei Geschwister haben Glück, dass sie in die Pflegestation gebracht wurden – Igelweibchen bekommen im Mai und im September Junge. Ist der letzte Wurf auf sich allein gestellt, ist er des Todes. Margot Ulrich legt dem Igelmädchen ein Papiertuch als eine Art Lätzchen unter das Kinn. Dann zieht die „Igelmama“, wie sie weithin genannt wird, mit einer kleinen Spritze eine lauwarme, frisch zubereitete Mischung aus Igel-Spezialmilch und Fencheltee auf. Die Kleine öffnet ihren Mund weit, lässt sich bereitwillig füttern und schmatzt dabei. Ist es genug, wehrt sie mit ihren Pfötchen ab.
Toiletting steht jetzt an, was für Margot Ulrich bedeutet: Sie ahmt die Tätigkeit der Igelmutter nach, massiert Darm und After der Kleinen, um ihre Verdauung anzuregen. Während Margot Ulrich den nächsten kleinen Igel zum Füttern holt – derzeit hat sie zehn in Pflege – lässt sie Mecki laufen. Hat sich das Tierchen entleert, schläft es in seinem Schächtelchen im Bad. Drei Stunden später kommt Mecki wieder dran – über Wochen werden die Kleinen Tag und Nacht alle drei Stunden gefüttert, bis sie jeweils rund 200 Gramm schwer sind, die Fütterungsintervalle allmählich auf bis zu sechs Stunden verlängert werden und die Tiere selbstständig fressen.
Bisweilen wird es eng in der Wohnung in Oberdorf, in der Hygiene hochgehalten wird, in der immer Käfige für Igel bereitstehen. Schnellt die Zahl der Tiere nach oben, stapelt Margot Ulrich auf die Käfige im Bad und in einem Extra-Raum weitere. Nicht nur Winzlinge und Heranwachsende betreut sie, sondern auch kranke erwachsene Igel – davon hat die Tierfreundin gerade zwei in Pflege. Sogar Infusionen legt Margot Ulrich, wenn beispielsweise ein Igel ausgetrocknet ist. Dann hängt sie die Flasche an einen Schlüssel ihres hohen Wohnzimmerschranks und führt von dort den Schlauch zu dem Tier, das auf ihrem Schoß liegt. Über jeden Igel führt Margot Ulrich Protokoll. „Wenn ein Igel meine Hilfe braucht, muss ich einfach helfen“, sagt sie. Stirbt ein Tier trotzdem, ist das schlimm für Margot Ulrich, „auch wenn ich weiß, dass ich alles für ihn getan habe. Igel sind einfach unglaublich faszinierende Tiere.“
Wen wundert es bei einer solchen Begeisterung, dass die Oberdorferin alles tut, um ihre Schützlinge wieder fit zu bekommen. Nach der MilchFencheltee-Spritzen-Zeit gibt es beispielsweise für die stachligen Gesellen Rührei zum Abendessen. Auch fettarmer Mozzarella und Mehlwürmer stehen auf dem Speiseplan. „Letztere sind sehr eiweißreich und gesund für Igel“, weiß Margot Ulrich aus ihrer langjährigen Erfahrung.
Kiloweise schleppt sie Igel-Spezialmilch, Futterdosen und -tüten, kauft Flohspray, das sie für die neu eingetroffenen Tiere braucht, besorgt Heu, säubert die Käfige zweimal pro Tag. Jedes Mal bekommen die Tiere frisches Zeitungspapier. Froh ist Margot Ulrich über die Hilfe eines Mannes aus dem benachbarten Kressbronn: „Er sammelt im halben Dorf die gelesenen Ausgaben der ‚Schwäbischen Zeitung‘ und bringt sie mir tonnenweise.“Finanziell wird die Igelmama von den Tierfreunden Bodenseekreis unterstützt.
Wiegen die Tiere im Herbst mindestens 600 Gramm, ziehen sie für den Winterschlaf in eine benachbarte Mühle um. Jeden Tag gegen 17 Uhr besucht sie ihre Tiere in der Mühle – und sieht nach dem Rechten. „Um Energie zu sparen, senken Igel ihren Herzschlag auf fünf Schläge pro Minute“, erklärt die Igel-Expertin. Obwohl alle Aktivitäten heruntergefahren werden, verlieren die Igel Gewicht. Das füttert Margot Ulrich ab Mai wieder an. Sind die Tiere wieder mindestens 600 Gramm schwer, werden sie ausgewildert – nach Möglichkeit in der alten Heimat. „Ist das wegen ungünstiger Bedingungen nicht möglich, weil es dort beispielsweise eine vielbefahrene Straße gibt, greife ich auf mein Netzwerk von Familien zurück, die gerne Igel aufnehmen.“
Geschichten über Geschichten kann Margot Ulrich erzählen. Ein älterer Igel wollte abends ohne Schmuseeinheiten nicht schlafen. Also nahm ihn die Oberdorferin beim Fernsehen auf ihren Schoß – links von ihr ihr Kater Peter, rechts davon ihre Hündin Jutta. Igel Nico hat sie im vergangenen Jahr mit gebrochenem Hinterbein aufgenommen – das Tier war in einen Schacht gefallen. Der Bruch wurde geschient und sobald es ging, setzte die Igel-Expertin die „Reha“an, ging mit dem Tier jeden Tag Gassi. Mittlerweile hat sich der Igel erholt und entschieden, in der Nähe der Igelfrau zu bleiben. Und nicht nur das: Nico antwortet, wenn sie mit ihm in ihrem Garten spricht.
„Ich bin froh, dass Igel in der Öffentlichkeit mittlerweile mehr Beachtung erfahren, sich die Menschen verstärkt um die Tiere kümmern“, sagt Margot Ulrich. Derzeit werden immer wieder kleine Igel entdeckt. Sie sofort einzufangen, davon rät die Expertin ab – auch aus Rücksichtnahme auf die Pflegestationen. Nur wenn die Mutter nach längerer Beobachtung nicht zurückkehre, sei das Einfangen und Aufpäppeln bis zum Auswildern angebracht. In diesem Fall rät sie dringend, einen Tierarzt oder eine Igel-Pflegestation zu kontaktieren. Und noch etwas ist ihr in Zeiten des Klimawandels ein Anliegen: „Es wäre toll, die Menschen würden Schalen mit Wasser in ihren Gärten aufstellen, wenn die Temperaturen steigen, damit die Tiere genug zu trinken finden“, findet die Igel-Expertin. „Sie haben es eh schon schwer.“
Ist Margot Ulrich igelmüde? „Von meinen 40 Dienstjahren als Hebamme habe ich 36 im Schichtbetrieb gearbeitet. Vielleicht stecke ich deshalb die Nachtschichten auch jetzt noch weg“, sagt sie. Trotzdem hat ihr der Arzt geraten, mit der aufopfernden Igelpflege aufzuhören – es ist der Rücken, der die engagierte Tierpflegerin plagt. Sie sagt: „Wenn ich die Igel um den 15. Mai ausgewildert habe und die igelruhigere Zeit bis Ende September andauert, bekomme ich Sehnsucht nach ihnen.“
In 16 Jahren hat Margot Ulrich keinen Urlaub gemacht. Nach wie vor hängt bei den Tierärzten ihre Telefonnummer, wird weitergegeben, und das im sehr weiten Umkreis.
Kürzertreten? Ja, vielleicht. Aber ganz aufhören? Das wird nicht möglich sein. Denn es wird wieder jemand an Margot Ulrichs Tür klingeln und ihr einen größeren Karton oder auch ein kleines Schächtelchen entgegenstrecken. Und das vielleicht schon wieder heute.