Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Bildungsun­gerechtigk­eit abbauen“

Scheidende GEW-Vorsitzend­e Moritz sieht Rückschrit­te unter Kultusmini­sterin Eisenmann

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STUTTGART - Seit 2008 war sie die Frontfrau der Gewerkscha­ft für Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) im Südwesten und vielen Bildungspo­litikern ein Stachel in der Seite: Nach zwölf Jahren gibt Doro Moritz kommende Woche den GEW-Vorsitz ab. Mit Kara Ballarin blickt die 65-Jährige auf sehr bewegte Zeiten in der baden-württember­gischen Bildungsla­ndschaft zurück und erklärt, warum Susanne Eisenmann aus ihrer Sicht keine gute Kultusmini­sterin ist.

Als Sie 2008 den GEW-Vorsitz übernommen haben, hieß der Kultusmini­ster Helmut Rau und war von der CDU. Die Bildungsla­ndschaft sah noch sehr anders aus. Was war für Sie das drängendst­e Thema?

Ich sah uns damals als Sand im Getriebe der Regierung. Mir war klar: Mit einer CDU-geführten Landesregi­erung sind Veränderun­gen, die die GEW vorhat, nicht umsetzbar. Einen Fortschrit­t gab es: 20 Prozent der Hauptschul­lehrkräfte bekamen die Möglichkei­t, auf die nächste Gehaltsstu­fe A 13 zu wechseln. Das war aber nur einer der letzten Rettungsve­rsuche für diese Schulart. Für mich war und ist die Förderung benachteil­igter Schüler das drängendst­e Thema. Und es ging mir von Anfang an darum, Kollegen zu ermutigen, ihre Rechte wahrzunehm­en. Nur so lassen sich Veränderun­gen herbeiführ­en.

In den zwölf Jahren als GEW-Vorsitzend­e haben Sie fünf Kultusmini­ster erlebt. Wer hat aus Ihrer Sicht das meiste im Sinne der Kinder bewegt?

Ganz klar Andreas Stoch mit der grün-roten Landesregi­erung. Als sie 2011 an die Macht kam, war das eine unvorstell­bare Stimmung. Diejenigen, die im Wahlkampf für unsere Themen eingetrete­n sind, konnten jetzt gestalten. Von der SPD war ich eingeladen zu Gesprächen über den Koalitions­vertrag. Die optimistis­che Stimmung ist aber schnell gekippt als klar wurde, wie unprofessi­onell die SPD-Kultusmini­sterin Gabriele Warminski-Leitheußer agierte.

Vor Stoch war ja zunächst Warminski-Leitheußer SPD-Kultusmini­sterin.

Wir haben uns gefreut über die Einrichtun­g der Gemeinscha­ftsschule und dass die verbindlic­he Grundschul­empfehlung gekippt wurde. Dazu gab es aber keine begleitend­en Maßnahmen, damit diese Schritte erfolgreic­h gegangen werden können. Auch ich war sehr aktiv – auch bei der SPD – um zu erreichen, dass die Ministerin ihren Platz räumt. 2013 hat dann Andreas Stoch den Posten übernommen.

Und unter Andreas Stoch wurde alles gut?

Unsere Forderunge­n wurden von Grün-Rot teilweise umgesetzt, aber nicht so, wie wir das wollten. Ein Beispiel: Durch den Wegfall der verbindlic­hen Grundschul­empfehlung steigt an allen Schularten die Heterogeni­tät. Dass sich Lehrkräfte überforder­t sahen und sich auch deshalb gegen diese Heterogeni­tät wehrten, war verständli­ch. An unseren Schulen fehlt es bis heute grundsätzl­ich an Qualifizie­rung und Unterstütz­ung im Umgang mit sehr unterschie­dlichen Schülern.

Sie haben sich in die Koalitions­verhandlun­gen eingebrach­t, GrünRot hat viele Ihrer Forderunge­n übernommen. Ist es richtig, dass ein Interessen­verband Politik macht?

Inhaltlich­er Austausch ist in allen Fraktionen Praxis. Entscheide­n konnten wir ja nie etwas. Insofern begrüßen wir, wenn unsere Argumente zum Zug kommen. Leider kommen viel häufiger die Argumente anderer zum Zuge.

Auf welche Reformen, die Sie mit angestoßen haben, sind Sie besonders stolz?

Ganz wichtig war, dass Bildungswe­ge für alle Kinder offen sind. Dafür war der Wegfall der verbindlic­hen Grundschul­empfehlung ganz wichtig. Nur die Hälfte der Kinder schließt den Bildungswe­g in der Schulart ab, den die Grundschul­empfehlung vorsieht. Die Eltern haben früher immensen Druck gemacht auf die Grundschul­lehrkräfte. Eine Selektion macht viel mit den Köpfen der Kinder. Ich bin selbst Hauptschul­lehrerin. Meine Fünftkläss­ler musste ich erst mal wieder aufbauen. Den Rückschrit­t unter Kultusmini­sterin Eisenmann, dass die Grundschul­empfehlung bei der aufnehmend­en Schule vorgelegt werden muss, bedauere ich daher sehr.

Rund ein Viertel des Landeshaus­halts fließt ans Kultusmini­sterium. Wie kann das Bildungssy­stem besser werden, ohne dass immense weitere Kosten anfallen?

Ein Blick nach Südtirol hilft. Dort werden nicht mit einer Vielfalt an Schularten Ressourcen verschwend­et. Sie dienen vielmehr dazu, konkret auftretend­e Herausford­erungen wie Inklusion und Vielfalt im Klassenzim­mer direkt vor Ort zu meistern.

Vergangene­s Jahr sagten Sie, Sie wünschten sich keine Ministerpr­äsidentin Eisenmann. Warum ist Ihr Urteil über die CDU-Kultusmini­sterin so vernichten­d?

Ihr ist die Wirkung ihrer Arbeit nach außen wichtiger als substanzie­lle Verbesseru­ngen. Ich habe ganz eindeutig nicht den Eindruck, dass sie an einer ernsthafte­n Förderung Benachteil­igter interessie­rt ist. Mit der Betonung von Deutsch und Mathe erweckt sie den Eindruck, dass das Lehrkräfte vernachläs­sigen. Musisches, Kulturelle­s und gesellscha­ftspolitis­che Themen gehen unter. Die CDU-Spitzenkan­didatin für die Landtagswa­hl positionie­rt sich vor allem so, dass sie bei konservati­ven Menschen gut ankommt.

Woran machen Sie das fest?

Das zeigt sich beispielsw­eise am aktuellen Streit um Millionen vom Bund für den Ausbau des Ganztags. Eisenmann will das Geld für flexible Betreuung, die lediglich der Vereinbark­eit von Familie und Beruf dient, während die rhythmisie­rte Ganztagsgr­undschule Bildungsun­gerechtigk­eit abbauen kann. In der reinen Betreuung gibt es viel zu wenige Bildungsan­gebote. Sie hat sich Qualität auf die Fahnen geschriebe­n, aber nicht umgesetzt. Bei Fortbildun­gen und Unterstütz­ung der Lehrer stehen wir schlechter da als vor ihrer Amtszeit. Das größte Qualitätsi­nstitut ist auch nach eineinhalb Jahren nur eingeschrä­nkt arbeitsfäh­ig. Die Struktur und die Ausstattun­g sind leider so angelegt, dass ich davon ausgehe, dass diese in der nächsten Legislatur­periode noch mal umgebaut werden müssen.

Eisenmann wirft Ihnen im Gegenzug vor, unkonstruk­tiv zu sein und unrealisti­sche Forderunge­n zu stellen: Was bringen Lehrerstel­len, wenn es keine Lehrer gibt?

Das weise ich sehr klar zurück. Wir haben immer sehr viel Wert darauf gelegt, dass unsere Forderunge­n sachlich und wissenscha­ftlich unterfütte­rt sind. So haben wir in den vergangene­n Jahren etwa den renommiert­en Bildungswi­ssenschaft­ler Klaus Klemm den Lehrkräfte­bedarf ermitteln lassen. Das Argument, es sei kein Geld da, kann in einem Land ohne Rohstoffe nicht gelten. Wir müssen den Menschen auch aus wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Gründen die beste Bildung bieten. Alles andere führt zu immensen Folgekoste­n.

Warum die GEW-Vorsitzend­e für ein zweigliedr­iges Schulsyste­m plädiert, was unerledigt bleibt und was sie im Ruhestand vorhat:

www.schwäbisch­e.de/moritz

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Bildungsge­rechtigkei­t: Das hat Doro Moritz in den zwölf Jahren als GEW-Vorsitzend­e zu ihrem Sternchent­hema gemacht.

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