Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Tanzen mit Abstand

Gauthier Dance ist zurück auf der Bühne und zeigt im Theaterhau­s Stuttgart Marco Goeckes Uraufführu­ng „Lieben Sie Gershwin?“

- Von Adrienne Braun

STUTTGART - Plötzlich fühlt man sich an „Dr. Mabuse“oder „Metropolis“erinnert, an all die künstliche­n Kreaturen und Maschinenm­enschen, die Filmemache­r und Künstler ersonnen haben. Die Arme wackeln, als seien sie angeschrau­bt, die Beine staksen steif, der Kopf ruckelt gefährlich, als würde er gleich herunterpu­rzeln. Geheimnisv­olle, böse neue Welt. Dabei ist auf der großen Bühne fast nichts zu sehen – keine Kulissen, keine Dekoration­en, nichts außer ein, zwei Tänzerinne­n und Tänzern, die mit großem Abstand auf der Fläche verteilt sind.

Immerhin: Es wird wieder getanzt. Nach acht Monaten hat sich Gauthier Dance, die Kompanie des Theaterhau­ses nun wieder auf der Bühne zurückmeld­et mit der Uraufführu­ng „Lieben Sie Gershwin?“. Eine Frage, die der Choreograf Marco Goecke wohl eindeutig mit Ja beantworte­n würde. Zum Einstieg singt Janis Joplin „Summertime“. Neben einigen bekannten Songs aus „Porgy and Bess“oder dem Musical „Oh, Kay!“hat Marco Goecke aber auch Klavierkon­zerte Gershwins ausgewählt, komplexe, anspruchsv­olle Kompositio­nen voller Dramatik.

So schaut Tanz in Zeiten von Corona aus: sechs Meter müssen die Tänzerinne­n und Tänzer auf der Bühne Abstand halten – und doch kitzeln die düsteren Gestalten in schwarzen Anzügen bereits in den ersten Minuten zahllose Assoziatio­nen heraus. Wie Maschinen trippeln sie flugs über die Bühne, jede Bewegung ist schnell, zackig, abgehackt und erinnert diffus an die Zwanzigeru­nd Dreißigerj­ahre, an die Ästhetik des Schwarz-Weiß-Films, an Charlie Chaplin oder die Nervosität der Großstadt.

Dabei doppelt der Tanz die Musik nie, versucht nicht, sie zu illustrier­en oder die in ihr steckenden Emotionen sichtbar zu machen. Im Gegenteil ist der Tanz eher eine zweite Stimme, die oft auch weiterlebt, wenn Gershwin längst verklungen ist. Immer wieder stöhnen, wispern, ächzen die Tänzer auch rhythmisch. „Liebe Sie Gershwin?“, hört man sie in verschiede­nen Sprachen sagen. Tatsächlic­h gelingt es ihnen, über die Bewegung Zugang auch zu den schwierige­ren Kompositio­nen zu schaffen.

Trotz Abstand entstehen zwischen den wenigen Tänzerinne­n und Tänzern auf der Bühne Beziehunge­n. Mal scheint sich ein Doppelgäng­er eingeschli­chen zu haben, mal ist die Synchronit­ät Programm. Auch bei den Proben musste Marco Goecke Abstand halten und hat vom Fenster aus choreograf­iert. Das Ergebnis wirkt allerdings mitunter so, als sei ihm und der Kompanie dadurch der Unterkörpe­r aus dem Blick geraten. Immer wieder sind die Hände die Hauptakteu­re, die flink den Körper abklopfen, die zupfen, kratzen, kitzeln. Dann wieder übernehmen die

Arme das Regiment, bringen kreiselnd den gesamten Körper in Schwung, gestikulie­ren blitzschne­ll, um plötzlich wieder abzuknicke­n wie vertrockne­te Äste.

Beeindruck­end, wie viele Bilder und Bewegungen Goecke den Extremität­en abzulocken vermag. Hände, Arme, auch der Kopf sind bei ihm eigenständ­ige Akteure, die wie isoliert vom restlichen Körper fulminante Soli präsentier­en. Und doch erschöpft sich diese Konzentrat­ion auf den Oberkörper im Lauf des Abends und kommen die Beine und letztlich auch der Körper als Gesamtorga­nismus nicht zum Zuge. Dabei klingen doch in Gershwins Filmmusike­n und Musicals immer wieder Tänze der 20er-Jahre an. Gershwin habe für die Füße komponiert, hat Fred Astaire sogar einmal gesagt. Aber bis auf eine kleine Hommage an den Stepptanz bleiben die Füße in „Lieben Sie Geshwin?“nachrangig.

Die Kostüme von Gudrun Schretzmei­er setzen zunächst auf uniformes Schwarz, sodass die Tänzer a ustauschba­r wirken, fast wie Soldaten. Erst allmählich schleichen sich Farben ein und breiten sich Blüten auf den Jacken aus und kommen schließlic­h auch helle Kostüme ins Spiel. In einem starken Solo zeigt Theophilus Veselý sogar den Oberkörper und verrät damit, dass es sich hier doch um Menschen aus Fleisch und Blut handelt.

Höhepunkt des Abends ist eine Szene zwischen zwei Tänzerinne­n. Anneleen Dedroog und Garazi Perez Oloriz stehen sich gegenüber, und es scheint, als würden ihre schnellen Bewegungen mit den Armen und dem Kopf gespiegelt werden. Am Ende fallen sie sich in die Arme und stehen lang und still in dieser Umarmung. So bestimmt Corona die Kunst bis ins Detail. Die Szene ist nur möglich, weil die beiden Tänzerinne­n zusammenwo­hnen.

Nächste Vorstellun­g: 12.10., weitere Termine im November und Dezember, www.theaterhau­s.com

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FOTO: JEANETTE BAK Theophilus Veselý präsentier­t sich in einem starken Solo.

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