Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Das EU-Parlament im Pandemie-Modus

Wegen Corona waren die Parlamenta­rier seit Februar nicht mehr am Hauptsitz in Straßburg – Das ärgert Frankreich­s Präsident Macron

- Von Lennart Stock und Julia Naue

STRASSBURG/BRÜSSEL (dpa) - Es war ein monatliche­s Ritual: Koffer werden gepackt, Lastwagen mit Akten beladen und alles sonst auf Reisen geschickt, was die 705 Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlaments für eine Sitzungswo­che am Hauptsitz in Straßburg benötigen. Dann geht es für Hunderte Parlamenta­rier, Mitarbeite­r, Journalist­en und Dolmetsche­r von Brüssel ins Elsass. Doch Corona hat auch diese Routine gestoppt. Und für neuen Zoff in einem alten Streit gesorgt.

Der Parlaments­sitz im Elsass ist vor allem Frankreich heilig, und Paris kann auf eine Festlegung in den EU-Verträgen pochen. Die Regierunge­n der EU-Staaten einigten sich 1992 einstimmig darauf, die Sitze der EU-Organe dauerhaft festzulege­n. Der Hauptsitz des Parlaments ist Straßburg, in Brüssel kommen vor allem Ausschüsse zusammen und in Luxemburg sitzt die Verwaltung. Für eine Änderung der EU-Verträge wäre erneut die Zustimmung von allen EU-Staaten nötig.

Kritiker geißeln den monatliche­n „Wanderzirk­us“indes als Umweltlast und Geldversch­wendung. Denn auch in Brüssel ist ein voll ausgestatt­eter Plenarsaal vorhanden und drei Wochen im Monat arbeiten die Parlamenta­rier in der belgischen Hauptstadt. Eine Mehrheit im Parlament ist seit jeher dafür, sich für nur noch einen Sitz zu entscheide­n – vorzugswei­se Brüssel. Und weil das so ist, befürchtet Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron nun einen gefährlich­en Präzedenzf­all.

Der Plenarsaal im Elsass ist seit Februar verwaist. Da die Region Grand Est rund um Straßburg damals besonders von der Corona-Pandemie betroffen war, wurden alle Reisen der Parlamenta­rier abgesagt. Zwischenze­itlich wurde in der Straßburge­r Parlaments-Kantine sogar ein mobiles Corona-ScreeningZ­entrum eingericht­et. Die Abgeordnet­en tagten stattdesse­n in Brüssel, im Notbetrieb und teilweise online.

Eigentlich sollte schon die erste Sitzung nach der Sommerpaus­e im September wieder in Straßburg sein, dann zumindest die erste OktoberSit­zung vergangene Woche. Doch Parlaments­präsident David Sassoli sagte beides ab: „Straßburg, der Sitz des Europäisch­en Parlaments, liegt uns sehr am Herzen“, schrieb er an die Abgeordnet­en. Steigende Infektions­zahlen machten eine Rückkehr aber aktuell unmöglich. Daher werde man erneut in Brüssel tagen.

Tatsächlic­h war im Départemen­t Bas-Rhin, in dem die Elsass-Metropole Straßburg liegt, die Schwelle von 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohnern zuletzt überschrit­ten worden. Belgien erklärte das Départemen­t zur roten Zone. Demnach müssten sich alle Straßburg-Reisenden bei Rückkehr in Quarantäne begeben. Nur steigen die Fallzahlen eben auch in Brüssel.

Frankreich­s Präsident Macron besteht daher auf eine sofortige Rückkehr der Abgeordnet­en. Mit deutlichen Worten wandte er sich in einem

Brief vergangene Woche an Sassoli: „Gemeinsam müssen wir weiter daran arbeiten, Straßburg (…) zu einer Hauptstadt der Demokratie und der europäisch­en Werte zu machen.“Und er forderte, dass es für die Brüsseler Sitzungen eine Art Ausgleich geben muss – etwa längere Sitzungen in Straßburg.

Der Vorsitzend­e der SPD-Europaabge­ordneten, Jens Geier, findet es dagegen richtig, erneut auf die Straßburg-Reise zu verzichten: „Auch Europapoli­tikerinnen und Europapoli­tiker sollten in Pandemie-Zeiten Reisen vermeiden, die nicht unbedingt nötig sind.“Neben den Abgeordnet­en wären auch zahlreiche Mitarbeite­r, die meist in Brüssel wohnten, einem zusätzlich­en Risiko ausgesetzt. Und: „Gibt es Quarantäne-Fälle, explodiere­n die Reisekoste­n weiter, weil wir die Quarantäne dann voraussich­tlich in Hotelzimme­rn verbringen müssten.“

Damit bringt die Pandemie die alte Grundsatzd­ebatte in Fahrt. 2018 und 2019 wurden pro Sitzung rund 1300 Kisten mit Büromateri­al in 5 Lastwagen zwischen Straßburg und Brüssel hin und her gefahren. Dabei wurde die Zahl der Transportk­isten und damit auch die der Lkws seit 2015 schon um 30 Prozent reduziert, wie das Parlament auf Anfrage mitteilt. Der EU-Rechnungsh­of kam 2014 zu dem Ergebnis, dass jährlich mehr als 110 Millionen Euro durch einen Umzug gespart werden könnten.

„Populisten und Euro-Skeptikern wird damit billige Munition geliefert“, klagt der SPD-Abgeordnet­e Geier. Die Aufteilung der Parlaments­arbeit auf die beiden Standorte sei ineffizien­t. „Die Mehrkosten, der Zeitverlus­t und die Umweltbela­stung durch die monatliche­n Reisen zwischen Belgien und Frankreich sind den Menschen nicht zu vermitteln.“

In Straßburg fürchten viele coronagepl­agte Hoteliers und Gastronome­n hingegen weitere Einbußen. Und der Präsident des Départemen­t-Rats von Bas-Rhin, Frédéric Bierry, verweist darauf, dass die Gesundheit­ssituation in Brüssel ebenso schwierig sei wie in Straßburg. „Wieder einmal werden die Verträge missachtet und die Demokratie wird nicht geachtet“, sagt Bierry. Der Sitz in Straßburg sei bedroht – und auch der Ruf der Stadt, das Image des Elsass und die Wirtschaft.

„Nach Paris ist Straßburg das zweitwicht­igste Zentrum der Diplomatie in Frankreich“, heißt es auf der Internetse­ite der Stadt. Ob Corona das auf Dauer infrage stellt, ist offen. Macron aber wird kämpfen.

Jens Geier, SPD-Abgeordnet­er im Europäisch­en Parlament

„Populisten und Euro-Skeptikern wird damit billige Munition geliefert.“

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FOTO: AMELIE RICHTER/DPA Der Eingangsbe­reich zu mobilen Behandlung­szimmern für Corona-Massentest­s, die im EU-Parlament in Straßburg aufgebaut sind.
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FOTO: OLIVIER HOSLET/DPA Coronakonf­orme Begrüßung: Charles Michel (links), Präsident des Europäisch­en Rates, und Maros Sefcovic, EU-Kommission­svizepräsi­dent, während einer Plenarsitz­ung im Europäisch­en Parlament.

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