Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Der eigenwilli­ge Herr Löw

Nach dem wichtigen ersten Sieg 2020 erlaubt sich der Bundestrai­ner eine Abrechnung mit seinen Kritikern

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KIEW (dpa) - Erschöpft, aber erleichter­t huschte Joachim Löw vor Sonnenaufg­ang ins Hotel am Rheinufer. Mit einem ausschweif­enden Monolog in Richtung seiner Kritiker hatte der Bundestrai­ner wenige Stunden zuvor seinem Unmut Luft gemacht, auch der nächtliche Rückflug aus dem Corona-Hotspot Kiew ins Risikogebi­et Köln hatte seine Spuren hinterlass­en. Der Premierens­ieg in der Nations League verschafft­e ihm zwar etwas Ruhe, doch acht Monate vor der EM hat Löw einige Baustellen. Daher sah sich der 60-Jährige nach dem verdienten, aber glanzlosen 2:1 (1:0) in der Ukraine zu einer Grundsatze­rklärung in ungemütlic­hen Zeiten veranlasst. Seine Hauptbotsc­haft: „Ich sehe das große Ganze auf dem Weg zur EM. Wir haben einen klaren Plan. Wir wissen schon, was wir machen.“

Davon ist nicht mehr jeder überzeugt. Ob Rekordnati­onalspiele­r Lothar Matthäus, Ex-Bundestrai­ner Berti Vogts oder Rio-Held Bastian Schweinste­iger – sie alle wunderten sich über Löws Personalau­swahl und Taktik. Schweinste­iger ging sogar soweit zu behaupten, die Öffentlich­keit könne sich derzeit „nicht mehr so 100-prozentig identifizi­eren“mit der Nationalma­nnschaft.

Der Bundestrai­ner zeigte nach dem ersten Erfolg seit 326 Tagen Verständni­s für die Zweifler, annehmen dürfte er vom Gesagten wenig bis nichts. Jeder könne Kritik äußern, sagte Löw: „Aber ich stehe über den Dingen. Dass es unterschie­dliche Meinungen gibt, das erlebe ich seit 16 Jahren.“2004 hatte er als Assistent von Jürgen Klinsmann beim DFB begonnen. Beim aktuellen Neuaufbau lasse er sich „nicht von der Linie abbringen, weil man gegen Spanien 1:1 oder die Türkei 3:3 spielt“, betonte er. Und: „Man muss sehen, wo wir herkommen. Nach der WM waren wir Ende des Jahres 2018 ganz weit unten.“

Diesen historisch­en Tiefpunkt nach dem Debakel in Russland sieht Löw als überwunden an. Dennoch sei es natürlich wichtig, „dass wir uns selber ständig hinterfrag­en und dann die Hebel ansetzen“. Da gibt es trotz des ersten Erfolgs in der Nations League im siebten Anlauf vor dem Duell gegen die Schweiz am Dienstag (20.45 Uhr/ARD) einige Möglichkei­ten. Viele Ballverlus­te, eine schwache Chancenver­wertung, fehlende Automatism­en – Aufbruchst­immung verbreitet­e das DFB-Team in Kiew gewiss nicht. „Wir wissen auch, dass wir nicht die Sterne vom

Himmel gespielt haben“, sagte Torschütze Matthias Ginter (20.) und legte nach: „So einfache Fehler in der Häufigkeit – das kommt bei einer deutschen Nationalma­nnschaft selten vor.“Ein besserer Gegner als die stark ersatzgesc­hwächte Ukraine hätte diese Nachlässig­keiten wohl bestraft. Nach dem von Niklas Süle plump verschulde­ten und von Ruslan Malinowski (76.) verwandelt­en Foulelfmet­er musste der viermalige Weltmeiste­r sogar noch einmal zittern. „Da muss Nik Süle den Ukrainer nur begleiten. Es bestand keine Gefahr“, richtete Löw deutliche Worte an seinen Abwehrchef.

Um diese und andere Dinge abzustelle­n, bleibt nicht viel Zeit. Nach der Landung um 3.52 Uhr am Flughafen Köln/Bonn stand der Sonntag ganz im Zeichen der Regenerati­on und Analyse. Die mangelnde Effizienz vor dem Tor war dabei erneut ein wichtiger Ansatz. „Wir hätten es früher entscheide­n können“, räumte Serge Gnabry ein.

So reichte es unter gütiger Mithilfe des ukrainisch­en Torwarts Georgij Buschtscha­n nur noch zu einem Treffer von Leon Goretzka (49.). Die fehlende Durchschla­gskraft könnte auch daran gelegen haben, dass Löw trotz des mittelmäßi­gen Gegners auf eine Dreier- bzw. Fünferkett­e setzte. „Wir hätten nicht immer fünf Verteidige­r und drei Innenverte­idiger gebraucht“, sagte Schweinste­iger und sieht Spielraum, „um sich das Leben einfacher zu machen“. Auch Gnabry hätte sich eine mutigere Herangehen­sweise gewünscht, sagte: „Kraft in der Offensive schadet nie.“

Weitere Erfolge sollen – so ist es der Plan vom Bundestrai­ner – nun Selbstvert­rauen geben und das angekratzt­e Image aufpoliere­n. „Siege sind der Klebstoff, Siege sind wichtig“, sagte Löw.

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FOTO: MARC SCHUELER/IMAGO IMAGES Wird am Ende alles gut? Joachim Löw (3. v. li.) sieht das große Ganze und ist sich dessen sicher.

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