Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Konfrontation mit unbewussten Ängsten
Die Ausstellung „Supernatural“in Tübingen zeigt skulpturale Visionen des Körperlichen
TÜBINGEN - Hoppla, was ist das für ein Wesen? Ein kleines, wie ein Wolfsmensch behaartes Mädchen sitzt auf dem Boden und beugt sich liebevoll über ein fleischfarbenes Geschöpf. Es ist deformiert und gleicht eher einem Monster als einem menschlichen Baby. Zwar ist einem schnell klar, dass diese Jugendliche in Leggings und geblümtem Jäckchen nicht zu den Besuchern gehört, sondern eine verblüffend lebensechte Skulptur der australischen Künstlerin Patricia Piccinini ist, aber dieses verstörend-faszinierende Paar zieht die Blicke immer wieder magisch an und bringt einen letztlich zum Nachdenken über den Wert des Lebens.
Die Kunsthalle Tübingen lädt mit ihrer neuen Ausstellung „Supernatural“(„Übernatürlich“) zu einer spannenden Auseinandersetzung mit skulpturalen Visionen des Körperlichen in der Gegenwartskunst ein. Mal baumelt ein seelenloser Cyborg an Fäden im Raum, mal begegnen sich Reisende in einem Warteraum und reden aneinander vorbei, mal räkelt sich ein nackter Mann mit Fuchskopf auf einem Podest.
Die neue Schau, konzipiert von Direktorin Nicole Fritz, ist eine Fortsetzung der „Almost Alive“von 2018, die zeitgenössische hyperrealistische Skulpturen in Tübingen präsentiert hatte. Während es damals um perfekt nachgebildete menschliche Wesen ging, stehen diesmal die Körper der Zukunft im Mittelpunkt. Wie wird der Mensch mithilfe der Biogenetik alles Lebendige verändern? Welche Rolle werden die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz spielen? In welcher Umwelt werden wir leben? Werden wir die humanen Fähigkeiten wie Empathie, Fantasie und Intuition künftig als menschliche Alleinstellungsmerkmale bewusst fördern oder zulassen, dass wir zum fremdbestimmten Roboterwesen mutieren? Fragen, die 22 Künstler aus elf Ländern zu beantworten versuchen.
Beim Rundgang durch die Ausstellung ist man folglich immer wieder mit unbewussten Ängsten konfrontiert. Josh Kline zum Beispiel macht anschaulich, welche Folgen eine voll automatisierte Arbeitswelt haben kann. Auf einem Beistelltisch hat der Amerikaner die mittels Computerscanner produzierte Hand eines Kellners, die einen Flaschenöffner hält, neben Essensresten platziert. Ausgesondert warten sie auf ihre Entsorgung.
Wie sich das Zusammenleben von Mensch und Maschine künftig gestalten könnte, zeigt der japanische
Künstler Takayuki Todo. Mittels Gesichtserkennungssoftware nimmt ein Roboterkopf mit kindlichen Gesichtszügen sein Gegenüber wahr. Er folgt unseren Blicken, imitiert über bewegliche Augenbrauen unsere Mimik und kann wie wir den Kopf neigen. Mehr aber auch nicht. Da ist ein Gespräch mit einer lebendigen Person deutlich zufriedenstellender.
Reiner Maria Matysik aus Berlin klappert wiederum mit der künstlichen Genschere. In einem großen Regal präsentiert er wie im Zukunftslabor bunte Mischwesen aus Pflanzen und Tieren. Sie wirken absurd und dann auch wieder vertraut. Es sind Prototypen, die der Bildhauer und Biologe seit den 1990er-Jahren entwickelt und mit Knetmasse dreidimensional formt.
Die Ausstellung stellt aber nicht nur die dunkle Seite der menschlichen Macht vor. Sondern Nicole Fritz sieht Künstler ebenso als Vorreiter für ein empathisches Naturverhältnis. Anne Carnein aus dem Allgäu etwa spürt in ihren Pflanzenobjekten, genäht aus gebrauchten Kleidungsstücken, Wachstumsprozessen nach und zeigt, wie fragil und schön die Natur doch ist. Während Fabien Mérelle aus Paris sich selbst als Träumer in Szene setzt und von Schmetterlingen umschwärmt wird.
Der Tübinger Ausstellung gelingt am Ende zweierlei: Einerseits ist man fasziniert von diesen Visionen des Körperlichen. Und andererseits wird einem die Verletzlichkeit unserer Umwelt bewusst, in der die Grenzen zwischen Mensch und Technik längst fließend geworden sind. Mit ihrem Schwerpunkt auf der hyperrealistischen und realistischen Skulptur spart die Schau aber auch einiges aus, zum Beispiel die beunruhigende Welt der Virtual Reality. In Anbetracht der technischen Möglichkeiten unserer Zeit verwundert das dann umso mehr.
Bis 7. März, geöffnet: Di.-So. 11-18 Uhr, Do. 11-19 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen. www.kunsthalle-tuebingen.de