Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Bruder und Schwester sollen beieinander bleiben
Wenn das Jugendamt Kinder aus der Familie nimmt, werden oft Geschwister getrennt
DARMSTADT/BREMEN (epd) - Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung: Werden Kinder in einer akuten Notsituation vom Jugendamt aus der Familie geholt, haben sie meist Schlimmes hinter sich. Hinzu kommt: Sehr häufig werden sie dabei nicht nur von ihren Eltern getrennt, sondern auch von ihren Geschwistern. Viel zu oft habe er miterlebt, wie Kinder mitten in der Nacht regelrecht auseinandergerissen worden seien, sagt Peter Büttner, Psychotherapeut und Geschäftsführer des Kinder- und Jugendhilfeprojekts „Petra“: „Es bricht einem das Herz.“
Deshalb hat das Projekt „Petra“in Darmstadt Anfang des Jahres das nach eigenen Angaben erste Geschwisterhaus in Deutschland eröffnet, ein bundesweites Pilotprojekt, das wissenschaftlich begleitet wird. Im Juni folgte das SOS-Kinderdorf in Bremen mit einem Geschwisterhaus.
In der Jugendhilfe würden Kinder leider viel zu häufig als Einzelfälle betrachtet, berichtet auch der Leiter des Bremer Geschwisterhauses, Lars Becker. „Wir machen von Anfang an klar: Ihr seid eine Familie, ihr bleibt zusammen.“
Warum das so wichtig ist? „Man muss sich nur die erste Nacht vorstellen“, sagt der Sonderpädagoge. Ein zwei, drei Jahre altes Kind übernachte in der Regel zum ersten Mal in seinem Leben nicht zu Hause, ohne Mutter oder Vater, noch dazu in einer Krisensituation. „Was bietet ihm Sicherheit? Alles, was vertraut ist.“Der Bruder, die Schwester. Sie vermittelten das Gefühl, nicht alleine zu sein, die Situation gemeinsam durchzustehen.
Becker ist überzeugt: „Geschwister sind eine wichtige Ressource, gerade in so einer schwierigen Zeit.“Tagsüber flitze der Vierjährige vielleicht mit gleichaltrigen Kindern durchs Haus, veranstalte mit ihnen Wettrennen mit den Bobbycars. Doch wenn er abends ins Bett gehe, habe er seinen großen Bruder an seiner Seite, der zudem die Einschlafrituale der Familie kenne. „Diese Sicherheit kann man gar nicht überschätzen.“
Als Schutz vor einer akuten Kindeswohlgefährdung werden in Deutschland jedes Jahr etwa 50 000 Kinder in Obhut genommen, darunter viele Geschwister. Bisher hänge es vor allem vom Zufall ab, ob Geschwister gemeinsam untergebracht würden, sagt Angelo Barba, Leiter des Darmstädter Geschwisterhauses. Eine zentrale Rolle spielten dabei das Alter der Kinder sowie die Kapazitäten in den Einrichtungen: Kleinkinder bis sechs Jahre kämen in der Regel vorübergehend in einer Bereitschaftspflegefamilie unter, ältere Geschwister in einer Einrichtung.
Das Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz begrüßt ausdrücklich den Aufbau von Geschwisterhäusern. Eine wissenschaftliche Untersuchung zeige, dass bei einer Herausnahme von Kindern aus der Familie auf die Geschwisterbindungen oft nicht hinreichend Rücksicht genommen werde, „die jungen Menschen sich dies aber deutlich wünschen“, sagt die stellvertretende Institutsdirektorin Monika Feist-Ortmanns.
Die Einrichtungen in Darmstadt und Bremen bieten jeweils zehn Plätze. Zum Haus in Darmstadt gehört ein großer Garten mit Schaukel und Planschbecken, drinnen gibt es einen Ruheraum mit Matratzen und Kuscheltieren. Die Kinder sollen sich wohlfühlen, betont Barba. „Sie sollen zur Ruhe kommen.“Aber gleichzeitig nicht heimisch werden.
„Das hier ist kein Zuhause“, stellt der Geschäftsführer des Projekts „Petra“klar. „Wir sind eine Notfallambulanz.“Wichtig sei, dass die Kinder schnellstmöglich eine dauerhafte Perspektive bekommen. Das Ziel: „Sie sollten nicht länger als acht Wochen hierbleiben.“
Darauf wird auch im Geschwisterhaus in Bremen großer Wert gelegt: „Die Kinder sollen so schnell wie möglich an einen Ort kommen, an dem sie dauerhafte Bindungen und Sicherheit aufbauen können“, betont Lars Becker.
Allerdings kann es Ausnahmen von dem Prinzip geben, Geschwister möglichst gemeinsam unterzubringen: In Einzelfällen könnten Fachkräfte zu der Entscheidung kommen, dass dies kontraproduktiv sei, erklärt Peter Büttner. Wenn die Schwester zum Beispiel für ihre kleinen Geschwister immer die Mutterrolle übernehmen musste und damit völlig überfordert war. Deshalb sei eine gute Diagnostik wichtig. Zum Haus gehört ein Expertenteam. Psychotherapeut Büttner schätzt, dass es etwa 20 Häuser in Deutschland für eine flächendeckende Versorgung bräuchte.