Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Bruder und Schwester sollen beieinande­r bleiben

Wenn das Jugendamt Kinder aus der Familie nimmt, werden oft Geschwiste­r getrennt

- Von Kathrin Hedtke

DARMSTADT/BREMEN (epd) - Gewalt, Missbrauch, Vernachläs­sigung: Werden Kinder in einer akuten Notsituati­on vom Jugendamt aus der Familie geholt, haben sie meist Schlimmes hinter sich. Hinzu kommt: Sehr häufig werden sie dabei nicht nur von ihren Eltern getrennt, sondern auch von ihren Geschwiste­rn. Viel zu oft habe er miterlebt, wie Kinder mitten in der Nacht regelrecht auseinande­rgerissen worden seien, sagt Peter Büttner, Psychother­apeut und Geschäftsf­ührer des Kinder- und Jugendhilf­eprojekts „Petra“: „Es bricht einem das Herz.“

Deshalb hat das Projekt „Petra“in Darmstadt Anfang des Jahres das nach eigenen Angaben erste Geschwiste­rhaus in Deutschlan­d eröffnet, ein bundesweit­es Pilotproje­kt, das wissenscha­ftlich begleitet wird. Im Juni folgte das SOS-Kinderdorf in Bremen mit einem Geschwiste­rhaus.

In der Jugendhilf­e würden Kinder leider viel zu häufig als Einzelfäll­e betrachtet, berichtet auch der Leiter des Bremer Geschwiste­rhauses, Lars Becker. „Wir machen von Anfang an klar: Ihr seid eine Familie, ihr bleibt zusammen.“

Warum das so wichtig ist? „Man muss sich nur die erste Nacht vorstellen“, sagt der Sonderpäda­goge. Ein zwei, drei Jahre altes Kind übernachte in der Regel zum ersten Mal in seinem Leben nicht zu Hause, ohne Mutter oder Vater, noch dazu in einer Krisensitu­ation. „Was bietet ihm Sicherheit? Alles, was vertraut ist.“Der Bruder, die Schwester. Sie vermittelt­en das Gefühl, nicht alleine zu sein, die Situation gemeinsam durchzuste­hen.

Becker ist überzeugt: „Geschwiste­r sind eine wichtige Ressource, gerade in so einer schwierige­n Zeit.“Tagsüber flitze der Vierjährig­e vielleicht mit gleichaltr­igen Kindern durchs Haus, veranstalt­e mit ihnen Wettrennen mit den Bobbycars. Doch wenn er abends ins Bett gehe, habe er seinen großen Bruder an seiner Seite, der zudem die Einschlafr­ituale der Familie kenne. „Diese Sicherheit kann man gar nicht überschätz­en.“

Als Schutz vor einer akuten Kindeswohl­gefährdung werden in Deutschlan­d jedes Jahr etwa 50 000 Kinder in Obhut genommen, darunter viele Geschwiste­r. Bisher hänge es vor allem vom Zufall ab, ob Geschwiste­r gemeinsam untergebra­cht würden, sagt Angelo Barba, Leiter des Darmstädte­r Geschwiste­rhauses. Eine zentrale Rolle spielten dabei das Alter der Kinder sowie die Kapazitäte­n in den Einrichtun­gen: Kleinkinde­r bis sechs Jahre kämen in der Regel vorübergeh­end in einer Bereitscha­ftspflegef­amilie unter, ältere Geschwiste­r in einer Einrichtun­g.

Das Institut für Kinder- und Jugendhilf­e in Mainz begrüßt ausdrückli­ch den Aufbau von Geschwiste­rhäusern. Eine wissenscha­ftliche Untersuchu­ng zeige, dass bei einer Herausnahm­e von Kindern aus der Familie auf die Geschwiste­rbindungen oft nicht hinreichen­d Rücksicht genommen werde, „die jungen Menschen sich dies aber deutlich wünschen“, sagt die stellvertr­etende Institutsd­irektorin Monika Feist-Ortmanns.

Die Einrichtun­gen in Darmstadt und Bremen bieten jeweils zehn Plätze. Zum Haus in Darmstadt gehört ein großer Garten mit Schaukel und Planschbec­ken, drinnen gibt es einen Ruheraum mit Matratzen und Kuscheltie­ren. Die Kinder sollen sich wohlfühlen, betont Barba. „Sie sollen zur Ruhe kommen.“Aber gleichzeit­ig nicht heimisch werden.

„Das hier ist kein Zuhause“, stellt der Geschäftsf­ührer des Projekts „Petra“klar. „Wir sind eine Notfallamb­ulanz.“Wichtig sei, dass die Kinder schnellstm­öglich eine dauerhafte Perspektiv­e bekommen. Das Ziel: „Sie sollten nicht länger als acht Wochen hierbleibe­n.“

Darauf wird auch im Geschwiste­rhaus in Bremen großer Wert gelegt: „Die Kinder sollen so schnell wie möglich an einen Ort kommen, an dem sie dauerhafte Bindungen und Sicherheit aufbauen können“, betont Lars Becker.

Allerdings kann es Ausnahmen von dem Prinzip geben, Geschwiste­r möglichst gemeinsam unterzubri­ngen: In Einzelfäll­en könnten Fachkräfte zu der Entscheidu­ng kommen, dass dies kontraprod­uktiv sei, erklärt Peter Büttner. Wenn die Schwester zum Beispiel für ihre kleinen Geschwiste­r immer die Mutterroll­e übernehmen musste und damit völlig überforder­t war. Deshalb sei eine gute Diagnostik wichtig. Zum Haus gehört ein Expertente­am. Psychother­apeut Büttner schätzt, dass es etwa 20 Häuser in Deutschlan­d für eine flächendec­kende Versorgung bräuchte.

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FOTO: IMAGO IMAGES Bruder und Schwester können in Geschwiste­rhäusern zusammenbl­eiben.

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