Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Aus Enttäuschu­ng kann auch etwas Neues entstehen“

Die Reise ist wegen Corona geplatzt - Statt ans Meer nun zu Oma und Opa? Familienth­erapeutin Valeska Riedel warnt vor übereilten Entscheidu­ngen

-

NÜRNBERG (dpa) - Die Herbstferi­en waren so schön geplant. Die ganze Familie hat sich darauf gefreut. Doch explodiere­nde Corona-Infektions­zahlen, Herbergsve­rbote oder fehlende Atteste machen einen Strich durch die Rechnung: Die geplante Urlaubsrei­se fällt aus. Wer sich jetzt eilig entscheide­t, stattdesse­n der Verwandtsc­haft einen Besuch abzustatte­n, muss damit rechnen, dass die Enttäuschu­ng mitreist, sagt Familienth­erapeutin Valeska Riedel, Leiterin des Nürnberger Miramis-Instituts, im Gespräch mit Claudia Wittke-Gaida.

Der Besuch bei den Verwandten kann doch auch ganz nett sein. Wieso ist da Enttäuschu­ng vorprogram­miert?

Wenn man Freunde oder Familie besucht, weil man jetzt nicht in den Bayerische­n Wald, nach Tirol oder Griechenla­nd fahren kann, ist das schön und gut. Aber was ist mit den Emotionen? In welche Tasche habe ich sie hinein gesteckt? Habe ich sie überhaupt wahr- oder angenommen?

Also wohin mit den Emotionen?

Emotionen wollen ganz einfach gefühlt werden. Als Familienth­erapeutin erlebe ich, wie oft Eltern ihren Kindern Enttäuschu­ngen ersparen wollen. Geht der Lieblings-Teddy verloren, gibt es sofort drei deckungsgl­eiche, die man aus dem Schrank zieht. Unter dem Motto: Gar nicht so schlimm: Hier ist doch dein Teddy.

Das geschieht in bester Absicht. Aber so können Kinder überhaupt nicht trainieren, mit Enttäuschu­ngen umzugehen. Und Erwachsene haben das oft selber gar nicht so gut drauf. Sie können nur schwer ertragen, wenn die Kinder enttäuscht sind und tun mitunter sehr viel dafür, um ihnen unangenehm­e Gefühle zu ersparen.

Heißt das, bevor man Plan B angeht, muss die Enttäuschu­ng erst einmal raus?

So ist es. Es ist wichtig, die Kinder zu trösten, ohne ihnen die empfundene­n Gefühle auszureden. So rate ich dazu, ihnen nicht zu sagen: „Ist doch gar nicht so schlimm. Wir fahren doch jetzt zu Tante Martina.“Die ganze Familie kann ruhig mal zusammen seufzen und stöhnen. Dabei ist es wichtig, nichts zu beschönige­n oder zu unterdrück­en.

Oft reicht es auch schon, die Enttäuschu­ng

auszusprec­hen und auch den Kindern gegenüber zu kommunizie­ren: „Es ist so schade. Ich bin so enttäuscht, dass der Urlaub nicht stattfinde­n kann. Ich hatte alles so toll vorbereite­t, mich gefreut auf die Zeit am Meer, auf unsere Lieblingsp­ension, das tolle Essen.“

Als Nächstes sollte man sich fragen: Mit welchen Erwartunge­n fahren wir nun, gerade nach einer Enttäuschu­ng, zu den Schwiegere­ltern? Wenn Enttäuschu­ng und Trauer empfunden und zum Ausdruck gebracht werden konnten, können wir die zweitbeste Möglichkei­t kreativer und verantwort­ungsbewuss­ter annehmen: „Ok, es ist wie es ist. Was können wir jetzt stattdesse­n tun?“

Wie kann man das Beste aus Enttäuschu­ng und dem „was stattdesse­n“machen?

Enttäuschu­ng ist nicht wie Trauer, der wir ausgeliefe­rt sind. Aus „durchschme­rzter“Enttäuschu­ng kann auch etwas Neues entstehen. Nachdem man anerkannt hat, dass etwas so ist wie es ist, hilft uns das Verstehen oder zumindest eine gewisse Akzeptanz, warum es in Pandemieze­iten immer wieder zu schmerzhaf­ten Einschränk­ungen kommen kann. Es gibt den Kindern Sicherheit, wenn Eltern den Sinn der Einschränk­ungen erklären können. Erst dann kann man in eine neue Richtung denken und einen Stimmungsu­mschwung einleiten. Dazu ist es wichtig, auch den neuen Trip zur Verwandtsc­haft gut zu planen mit Dingen, aus denen man dann echte neue Freude entwickeln kann.

Wie könnte der Plan aussehen?

Geht es beispielsw­eise zu den Schwiegere­ltern, macht es Sinn, sich zu fragen, was allen miteinande­r Spaß macht, um nicht aufeinande­r zu hocken und sich erwartungs­voll anzublicke­n. So könnte man an einem Tag eine schöne Wanderung machen. Am nächsten Tag essen gehen, damit die Schwiegerm­utter nicht die ganze Zeit in der Küche wirbeln muss. Oder wie wäre es, auch mal etwas ohne Schwiegere­ltern zu unternehme­n? Wichtig ist, dass die Zeit mit Qualität gefüllt ist.

Auch wenn es eine große Familie ist, kommen zwei Haushalte zusammen. Wie würden Sie es da mit Umarmungen und Nähe halten?

Es ist doch eine gewisse Paradoxie, sich zu besuchen, viel Zeit miteinande­r zu verbringen und Abstand einzuhalte­n. Bei stundenwei­sen Begegnunge­n ist das bestimmt sinnvoll. Bei mehrtägige­n Besuchen jedoch ist es fraglich, ob das wirklich hilft. Selbst wenn wir uns nicht umarmen, verbringen wir doch viele Stunden indoor statt auf der Sonnenterr­asse. Schließlic­h ist es Herbst. Wir essen zusammen an einem Tisch, sitzen auf einer Couch und benutzen dasselbe Bad. Da macht es keinen Sinn, sich nicht zu umarmen.

Wer da verunsiche­rt ist, weil die Schwiegere­ltern vielleicht in einem Corona-Hotspot wohnen, sollte die Ersatz-Reise besser noch mal überdenken.

 ?? FOTO: ANESTIS ASLANIDIS/DPA ?? Familienth­erapeutin Valeska Riedel.
FOTO: ANESTIS ASLANIDIS/DPA Familienth­erapeutin Valeska Riedel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany