Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
So biestig kann Familienglück sein
Das Theater Ravensburg feiert mit „Der Wind macht das Fähnchen“Premiere
RAVENSBURG - „Endlich wieder Theater“, haben sich Besucher auf die Premiere von „Der Wind macht das Fähnchen“am Donnerstagabend im Theater Ravensburg gefreut. Die Inszenierung von Marco Ricciardo des Einfamilienstücks des gebürtigen Ravensburger Dramatikers Philipp Löhle hat die Spielzeit nach dem Lockdown wieder eröffnet.
Vorhang auf und dann das: Stapelweise Holzwürfel mit diversen Öffnungen, die Jutta Klawuhn, Ana Schlaegel, Tobias Bernhardt und Alex Niess über den Bühnenboden schieben. Sie umbauen, zurechtrücken, und schwups ist die Küche der vierköpfigen Familie fertig. Sie schnappen sich leere Joghurtbecher, schließlich ist gerade Frühstückszeit, und klappern unverdrossen mit ihren Löffeln darin herum. Please smile und klick, ein Foto für die Nachwelt. Jutta Klawuhn ist Mutter Petra, Alex Niess ihr Ehemann Holger. Ana Schlaegel als Tochter Sibylle und Tobias Bernhardt ihr Bruder Tim. Die Zeit ist irgendetwas mit Neunzehnhundertungerade. Das lässt sich nicht genau sagen, wirken die Kostüme (Mechthild Scheinpflug) doch eher zeitlos. Beim Versuch, einem ihre heile Welt vorzugaukeln, wird schnell klar, dass das nicht funktioniert. Zugleich stellt sich die Frage, was sich darunter überhaupt vorstellen lässt.
Die Reise an die Nordsee bei Dauerregen und zehn Tagen Backgammon spielen, bis das heillose Chaos ausbricht? Dann doch lieber in den
Süden nach Italien mit Kind und Kegel zum Klassiker von Adriano Celentano aus dem Off. Man schreibt das Jahr 1986, wenn Petra partout fliegen will, Holger aber auf den Dienstwagen pocht. Sibylle und Tim heimlich die erste Zigarre paffen. Ricciardo lässt die Szenen in aller Kürze und bei hohem Spieltempo aufeinanderprallen. Dazwischen immer wieder Neugestaltung des Bühnenbildes (Werner Klaus), das sich als äußerst handliches Baukastensystem entpuppt.
In Fahrt kommt das Stück mit der Szene, in der Außendienstler Holger seinen beiden aufpolierten Teilhabern (Tobias Bernhardt und Ana
Schlaegel) gegenübersteht. Nicht mehr rentabel sei sein „sinnloses Rumgegurke“. Stattdessen ist jetzt das Internet angesagt mit eigenem Büro, toller Aussicht und Sekretärin. Holger winkt ab, bleibt „konsequent“, lässt sich auszahlen und träumt weiter davon, König einer einsamen Pazifikinsel zu sein. Gepfefferte Dialoge und fiese Gemeinheiten nach dem Motto „Der Ton macht die Musik“befeuern dieses in Schieflage geratene Familienglück, unterbrochen während der Umbauphasen von zeittypischen Popsong-Einspielungen. Bei allem so sehnlich erhofften Miteinander driften die vier doch immer weiter auseinander. Statt Umwelttechnik zu studieren, wie es der Herr Bundespräsident empfiehlt, eröffnet Sibylle ein originelles Modelabel, bei dem Kunden nur telefonisch bestellen können, ohne zu wissen, was sie erhalten. Das Geschäft boomt, Schlaegel ist im Vollrausch, nur den Gewerbeschein hat sie vergessen. Petra hat die Nase voll von ihrem „Looser“und erlebt einen zweiten Frühling, nur um wieder bei Holger zu landen. Das sind gelungene Szenen, die mit Unerwartetem daherkommen.
Nach der Pause löffeln sie wieder. Alles noch mal von vorn? Nein, es ist Zweitausendundirgendwas, und nun wollen sie alles besser machen. Tim entdeckt seine lyrische Ader, die er aber vorm Papa verbergen muss. Niess überzeugt solo, wenn er wieder mal arbeitslos die Tage verdeckt auf Parkplätzen zubringt und sich von einstigen Kunden (Tobias Bernhardt) abkanzeln lässt. Bernhardt kommen die Rollenwechsel zugute und die pointierten Dialoge. Klawuhn balanciert auf dem Grat zwischen Ehefrau und Liebhaberin, zankt und streitet an allen Fronten. Schöner Plot ist ihre zufällige (Wieder-)Begegnung mit Holger im Puff. Nur dann, wie soll das ausgehen? Das wird hier nicht verraten, sobald Tim sich den Polizeigürtel umschnallt und seine Eltern nachts Sibylles Nähstudio durchwühlen. Auf der Suche nach was? Endlich wieder Theater – auf jeden Fall.
Weitere Vorstellungen sind am Samstag, 17. Oktober, und Freitag, 23. Oktober, jeweils um 20 Uhr.