Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Warum die Corona-Zahlen im Kreis geschönt sind
Sieben-Tage-Inzidenz liegt deutlich höher als vom Landesgesundheitsamt angegeben
RAVENSBURG - Wer auf der Internetseite des Robert-Koch-Instituts (RKI) auf die Deutschlandkarte blickt, sieht ein überwiegend rot gefärbtes Land. Lediglich in Nord- und Ostdeutschland gibt es noch ein paar gelbe und orangene Tupfer, die auf eine SiebenTage-Inzidenz von unter 50 neuen Corona-Fällen auf hunderttausend Einwohner innerhalb von einer Woche im jeweiligen Landkreis hindeuten. Der Rest Deutschlands ist Risikogebiet, auch das ganze Land BadenWürttemberg. Dennoch stach der Landkreis Ravensburg lange Zeit positiv heraus: Die Zahlen erschienen hier zumindest niedriger als in den umliegenden Landkreisen, Landrat Harald Sievers ließ sich vor zwei Wochen stolz auf die angeblich besten Werte im ganzen Land vom SWR interviewen. Ein genauer Blick auf die Zahlen verrät aber: Sie stimmen nicht und sind tatsächlich deutlich schlechter als vom Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg angegeben.
Das Problem der falschen Zahlen betrifft nicht nur den Landkreis Ravensburg, sondern nach Recherchen des Magazins „Der Spiegel“mindestens 30 Prozent aller Landkreise in Deutschland. Grund ist ein krasser Melde- und Übermittlungsverzug von manchen Landkreisen zu den Landesgesundheitsämtern, die wiederum die Werte ans RKI weitergeben.
Obwohl man meinen sollte, dass im 21. Jahrhundert digital eine schnelle und korrekte Übermittlung positiv getesteter Menschen möglich sein sollte, trudeln diese Ergebnisse aus den Laboren häufig per Fax im jeweiligen Kreisgesundheitsamt ein, wo sich die überlasteten Mitarbeiter dann zunächst um Benachrichtigung und Kontaktverfolgung kümmern, weil nur durch eine schnelle Eindämmung die weitere Verbreitung des Virus verhindert werden kann. Erst danach tippen sie die per Fax eingegangenen Fälle mühsam in den Computer und übermitteln sie ans jeweilige Landesgesundheitsamt,
das im Fall von Baden-Württemberg um 16 Uhr weiter ans RKI meldet. Was später kommt, fällt laut „Spiegel“häufig unter den Tisch, zumindest in der Berechnung der aktuellen Sieben-Tage-Inzidenz.
Dadurch würden oft nur sechs oder sechseinhalb Tage berechnet, was ein völlig verzerrtes Bild ergebe. Besonders krass sei dieser Unterschied nach der „Spiegel-Recherche“im Landkreis Cloppenburg (Niedersachsen) gewesen: Dort lag die tatsächliche Sieben-Tage-Inzidenz am 8. Oktober auf Basis der Zahlen des Kreisgesundheitsamtes bereits bei 90, beim RKI kam nur ein Wert von 24 an.
Die Sieben-Tage-Inzidenz berechnet sich so: Die Anzahl Neuinfizierter innerhalb einer Woche wird mit 100 000 multipliziert und dann verteilt auf die Zahl der Einwohner, im Landkreis Ravensburg sind das gerundet 285 000. Und siehe da: Auch hier gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem echten Wert und der Zahl, die vom Landesgesundheitsamt (LGA) beziehungsweise RKI genannt wird, wenngleich der Fehler nicht so extrem ist wie in Cloppenburg. Das Landratsamt Ravensburg verzeichnete von Mittwoch vergangener bis Dienstag dieser Woche insgesamt 238 Neuinfizierte. Diese Zahl ist bereits bereinigt um Fälle, die wieder abgezogen werden mussten, weil der Betreffende zum Beispiel doch woanders seinen Hauptwohnsitz hat, zum Beispiel ein Student, oder sich ein zunächst positiver Test im Nachhinein als negativ entpuppte. Dies ergibt also eine Sieben-Tage-Inzidenz von 83,5,
Stand Dienstagnachmittag. Das Kreisgesundheitsamt hat auch alle diese Fälle korrekt ans LGA weitergemeldet, wie sich aus dessen täglichen Situationsberichten herauslesen lässt: 35 am vergangenen Mittwoch, 37 am Donnerstag, 55 am Freitag, 40 am Samstag, 16 am Sonntag, 10 am Montag und 45 am Dienstag, macht 238 Fälle. Trotzdem flossen in die Berechnung nur 190 Fälle ein, was zu einem vergleichsweise harmlosen Inzidenzwert von 66,6 führt. Auch auf Nachfragen der „Schwäbischen Zeitung“behauptet das LGA jedoch, richtig zu rechnen. „Wir haben aufgrund Ihres Hinweises die Daten vom Landesgesundheitsamt (LGA) nochmals überprüfen lassen. Hierbei konnte kein Fehler bei der Berechnung der Sieben-Tages-Inzidenzwerte festgestellt werden“, teilt
Pressereferentin Julia Christiansen mit. Bei der Berechnung gelte zu berücksichtigen: „Das LGA verwendet für die Berechnung der Sieben-TageInzidenz den zum Zeitpunkt des Berichts gültigen Datenstand nach Meldeeingang beim Gesundheitsamt. Dieser kann sich im Laufe der nächsten Tage durch Nachmeldungen und – zu einem geringeren Teil – durch FallKorrekturen nochmals ändern. Gleichzeitig sorgt ein gewisser Meldeverzug dafür, dass die neu gemeldeten Fälle auch Meldefälle der Vortage enthalten. Die ersten Berechnungstage enthalten also Nachmeldungen außerhalb des Sieben-Tages-Zeitraums.“
Da der Kreis selbst aber auch täglich beziehungsweise bei jeder Meldung die zuvor falsch gemeldeten Fälle korrigiert und wieder abzieht, ist eine Differenz von 48 Fällen wie in der genannten Beispielwoche unwahrscheinlich. Das beweist auch die Erhebung des „Berliner Tagesspiegels“, der täglich sämtliche Werte aus allen deutschen Landkreisen auswertet und genau wie die „Schwäbische Zeitung“zum gleichen Ergebnis kommt: einem deutlich höheren Inzidenzwert, der zuletzt im Fall von Ravensburg meist 15 bis 20 Punkte über dem LGA-Wert lag.
Mancher mag sich nun fragen: Warum ist es überhaupt so wichtig, den richtigen Wert zu kennen? Wenn alle Landkreise ohnehin im roten Bereich liegen, kann es ja relativ egal sein, ob die 7-Tage-Inzidenz nun bei 66 oder 83 liegt. Interessant wird das Thema erst, wenn die Grenze von 50 über- oder unterschritten wird. Denn davon kann dann abhängen, ob Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verschärft oder gelockert werden. Verständlich so gesehen, dass das Ravensburger Landratsamt, das ja eigentlich den korrekten Wert selbst berechnen könnte (und das wahrscheinlich auch tut), sich in der Außenkommunikation lieber auf die schöneren Zahlen des LGA bezieht, noch dazu auf die vom Vortag. „Die Anzahl der Fälle stellt alle dem Gesundheitsamt gemeldeten positiven Laborbefunde/ Erkrankungen seit der letzten Meldung bis um 10 Uhr des Meldetages dar. Diese Zahlen können aus verschiedenen Gründen (zum Beispiel Falldefinition, Meldeadresse, Meldezeitpunkt) von den vom Landesgesundheitsamt veröffentlichten Zahlen abweichen“, heißt es dazu aus der Pressestelle des Landratsamtes.
Kleiner Trost: Trotz allem schneidet der Kreis Ravensburg im Landesvergleich immer noch gut ab und hat einen besseren Wert als fast alle anderen. In Biberach liegt der Wert allerdings an den meisten Tagen laut den Auswertungen im „Berliner Tagesspiegel“niedriger, weshalb der SWR eigentlich den dortigen Landrat Heiko Schmid hätte interviewen müssen, was das Geheimnis seines Erfolgs ist.