Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Erdogan und die Engel
Türkei enthüllt christliche Mosaike in Hagia Sophia wieder – Ein Grund ist die Unesco
ISTANBUL - In der Hagia Sophia ist rechtzeitig zum Advent ein Engel erschienen. Ein tausend Jahre alter Seraph blickt aus der Kuppel des byzantinischen Kirchenbaus herab, seit vor einigen Tagen ein Gerüst abgebaut wurde, hinter dem sein Antlitz versteckt war. Und damit nicht genug der Wunder: Auch andere Mosaiken, die nach der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee in diesem Sommer abgedeckt wurden, sind wieder unverhüllt zu sehen. Obendrein wird das byzantinische Kloster Chora nun doch nicht als Moschee genutzt, wie die Regierung das angekündigt hatte – das eröffnende Freitagsgebet mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wurde im letzten Moment abgesagt. Hintergrund dürfte die Visite einer Unesco-Delegation sein, die im vergangenen Monat beide Kulturgüter inspizierte, um einzuschätzen, wie sich die Umwandlung in Moscheen auf ihren Status als Weltkulturerbe auswirken soll. Die Entscheidung der Unesco wird im nächsten Sommer erwartet.
Still und fast heimlich hat die türkische Regierung die Notbremse gezogen. „Uns sagt man ja nichts“, grummelt ein Andenkenhändler auf dem menschenleeren Platz vor dem Kloster Chora in der Altstadt von Istanbul – alle anderen Läden und Lokale haben aufgegeben und geschlossen. Mit Pauken und Trompeten hatte die Regierung im Sommer das triumphale Freitagsgebet im Kloster Chora für den 30. Oktober angekündigt, doch einen Tag vorher sagte das Religionsamt es wieder ab: Die Eröffnung als Moschee werde wegen andauernder Renovierungsarbeiten auf unbestimmte Zeit verschoben. Dabei waren die Vorbereitungen längst abgeschlossen, wie auf durchgesickerten Fotos aus dem Kloster zu sehen war. Mit einem Zeltdach und ausfahrbaren Abdeckungen für die Wandmosaiken war ein Meisterwerk der Kunstgeschichte zur Mehrzweckhalle umgestaltet worden.
Die Decken- und Wandverkleidungen sowie die Teppiche sollen inzwischen wieder herausgerissen worden sein, wie die islamistische Zeitung „Milli Gazete“jetzt berichtete – die Zeitung ist außer sich vor Wut über das gebrochene Versprechen der Regierung. Vor Ort war diese Woche festzustellen, dass die Tore zwar versperrt sind, im Inneren aber gewerkelt und gebaut wird. Auf Befehl von Staatspräsident Erdogan solle das Bauwerk weiter restauriert werden, zitierte „Milli Gazete“den Direktor des Stiftungsamtes, das für Chora zuständig ist; demnach dürften die Arbeiten mindestens sechs Monate dauern, vielleicht aber auch Jahre. „Ich kann jetzt auch einpacken“, bemerkt der Andenkenhändler.
In der Hagia Sophia wurden unterdessen die Abdeckungen entfernt, mit denen im Sommer mehrere weltberühmte Mosaiken verhüllt worden waren. Über dem Eingangstor ist in voller Schönheit wieder das große Mosaik aus dem 10. Jahrhundert zu sehen, das die Jungfrau Maria mit Jesuskind
und den römischen Kaisern Konstantin und Justinian zeigt: Justinian, der Erbauer der Hagia Sophia, überreicht von links die Kirche, von rechts übergibt Konstantin die Stadt, die er einst gründete. Und auch das Mosaik über dem Kaisertor ist wieder sichtbar, wo der byzantinische Kaiser Leon VI vor Jesus Christus kniet.
Über dem einen Mosaik und unter dem anderen liegen aufgerollt die Leinwände, mit denen sie verdeckt waren. Zwei Stoffbahnen verschleiern noch das Marien-Mosaik in der Apsis der Hagia Sophia, die anderen Vorhangstreifen sind zur Seite geschoben; mehr dürfte nicht gehen, da das Gesicht der Mutter Gottes sonst von betenden Muslimen gesehen würde. Nun blickt auch ein tausend
Jahre alter Engel auf Besucher und Betende in der Hagia Sophia herab. Ein Seraph mit sechs Flügeln ist es – einer von vier Seraphinen hoch oben in den Stützbögen unter der gewaltigen Kuppel und der einzige mit offenem Antlitz. Im Osmanischen Reich waren die byzantinischen Engelsgesichter mit vergoldeten Hauben verdeckt worden. Drei Seraphine tragen diese Goldhauben bis heute.
Das Gesicht des vierten Engels wurde vor zehn Jahren bei Restaurationsarbeiten freigelegt, verschwand dann aber wieder hinter einem Gerüst, das jetzt abgebaut wurde. Mit auffallend mürrischem Gesicht blickt der Seraph nun wieder auf das Treiben in der Hagia Sophia hinab. Wie lange noch – das hängt wohl auch von der Unesco ab.