Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Psychologen raten zu rascher Schulöffnung
Leistungsdefizite und Wissenslücken wachsen im Lockdown – Auch die Zahl der Schulverweigerer steigt
GERLINGEN (lsw) - Die Schulpsychologen dringen mit Blick auf die wachsende Zahl von Schulverweigerern auf eine rasche Öffnung der Schulen nach dem Lockdown. „Wir haben schon nach dem ersten Shutdown eine dramatische Zunahme der Fälle von Schulverweigerung bemerkt“, sagte die Vorsitzende des Verbandes der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen Baden-Württemberg (LSBW), Nina Großmann. Schüler aller Altersgruppen gewöhnten sich zu Hause an das Nichtstun, vernachlässigten ihre Aufgaben und fühlten sich bei der Rückkehr auf die Schulbank überfordert. Auch während des Lockdowns stünden die Telefone nicht still, sagte Großmann.
Baden-Württembergs Ressortchefin Susanne Eisenmann (CDU) will Kitas und Grundschulen auf jeden Fall schon ab dem 11. Januar wieder öffnen und hat sich für diesen Vorstoß massive Kritik aus Infektionsschutzgründen eingehandelt. Großmann hingegen befürwortet den Plan. Gerade bei Grundschülern seien deutliche Leistungsdefizite und Wissenslücken zu beobachten.
Ein Viertel der Fälle in den 28 Beratungsstellen im Land sei derzeit auf das Phänomen der Schulverweigerung zurückzuführen, erläuterte die Diplom-Psychologin aus Gerlingen
bei Stuttgart. Vor der CoronaKrise lag dieser Anteil bei etwa fünf Prozent. „Den Kurs von Ministerin Eisenmann, die Schüler schnell wieder an die Schulen zu holen, finde ich absolut richtig und mutig.“
Ein Sprecher Eisenmanns sagte: „Wir sehen uns durch die Aussagen des Verbands bestätigt.“Die Einschätzung der Schulpsychologen decke sich mit der Sicht von Kinderärzten und Kinderpsychologen, dass junge Menschen die durch den Schulbesuch vorgegebene Struktur und Stabilität sowie den sozialen
Kontakt zu Gleichaltrigen und ihren Lehrkräften dringend benötigten. „Gerade kleinere Kinder aus nicht so stabilen sozialen Verhältnissen dürfen wir in diesen schwierigen Zeiten nicht aus dem Blick verlieren“, betonte der Sprecher.
Zudem seien Schulen auch keine Infektionstreiber. Stand 14. Dezember seien sieben von rund 4500 Schulen coronabedingt komplett geschlossen und 813 von ungefähr 67 500 Klassen vorübergehend in Quarantäne gewesen. Verbandschefin Großmann sagte, die Probleme der Kinder und Jugendlichen – zu zwei Dritteln männlichen Geschlechts – äußerten sich auch körperlich mit Bauch- und Kopfschmerzen sowie Erbrechen. In einem Fall hätten massive Versagensängste eines Mittelstufenschülers zum Suizid geführt. Die Hauptmotivation der Schüler zum Lernen seien die sozialen Beziehungen – sei es zu den Mitschülern, sei es zum Lehrer. „Das ureigene Interesse an den Inhalten steht nicht im Vordergrund“, betonte Großmann, die eine Beratungsstelle in Ludwigsburg leitet.
Der Verband mit seinen 200 Mitgliedern fordert Entlastung von Verwaltungsaufgaben wie Telefonate annehmen, Termine vergeben, Akten führen und Statistiken anlegen. Auf die 28 Beratungseinheiten entfielen 18 ganze oder Teilzeit-Verwaltungsstellen. „Wir wollen und müssen uns auf die inhaltliche Arbeit konzentrieren“, betonte Großmann. Die Anzahl der Verwaltungsstellen müsse mindestens verdoppelt werden.
Die Schulpsychologen beraten auch Lehrer. „Es kommen mehr Lehrkräfte, die sich wegen der Corona-Situation mit den neuen Unterrichtsformen und dem Wechsel von Präsenz und Fernunterricht überfordert fühlen“, sagte Großmann. „Das geht bis hin zum Burn-out.“