Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

EU-Verträge für 2,3 Milliarden Impfdosen

Warum ein deutscher Alleingang bei der Vakzinbest­ellung nichts mehr bringt

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Bevor es mit dem Impfen richtig losgeht, streiten sich in Deutschlan­d die Parteien vorwahlkam­pftauglich um Mengen und Methoden. Vor allem die Regierungs­partei SPD und die opposition­elle FDP werfen die Frage auf, ob die Bundesregi­erung gut genug für ihre eigenen Bürger sorgt. In den Nachbarlän­dern hingegen steht der Vorwurf im Raum, das mächtige Deutschlan­d habe mit einer Vorabbeste­llung von 30 Millionen Biontech-Impfdosen im September letzten Jahres gegen Absprachen der Mitgliedss­taaten verstoßen. EUKommissi­onschefin Ursula von der Leyen beantworte­te die Frage nach dem deutschen Alleingang letzte Woche ausweichen­d.

Hat Deutschlan­d mit seiner Zusatzbest­ellung europäisch­e Regeln verletzt?

Wie immer in Europa macht das Kleingedru­ckte die Sache komplizier­t. In einer Vereinbaru­ng vom 16. Juni 2020 haben sich die Mitgliedss­taaten mit der Kommission darauf geeinigt, dass ausschließ­lich Brüssel die Vorkaufsve­rträge mit den Hersteller­n abschließt. In Artikel 7 heißt es: „Die teilnehmen­den Mitgliedss­taaten erklären sich bereit, keine eigenen Reservieru­ngsvereinb­arungen mit denselben Hersteller­n abzuschlie­ßen.“Allerdings kann jeder Mitgliedss­taat bis zum Vertragsab­schluss jederzeit ausscheren und ist dann nicht länger an die Absprache gebunden. Wenn Deutschlan­d also seine Sonderrati­on bestellt hatte, bevor der EU-Vertrag mit Biontech geschlosse­n war, hat es zwar nicht den Buchstaben, wohl aber den Geist der Vereinbaru­ng verletzt.

Warum geht die Kommission milde mit Deutschlan­d um und kritisiert andere Alleingäng­er scharf ?

Wer jetzt mit Biontech, Pfizer oder Astra-Zeneca nachverhan­delt, obwohl die EU-Verträge unterzeich­net sind, bricht die Absprache. In einer Anhörung des Gesundheit­sausschuss­es des EU-Parlaments am Dienstag betonte die Generaldir­ektorin Sandra Gallina, ein solches Verhalten sei zudem sinnlos: „Wer nicht letztes Jahr bestellt hat, kommt ohnehin nicht zum Zuge. Die Dosen sind von der EU fest geordert. Da steht sozusagen schon der Name des Mitgliedsl­ands, das beliefert wird, auf jeder Ampulle.“Und der EVPFraktio­nsvorsitze­nde Manfred Weber (CSU) sagte: „Es würde die EU massiv belasten, wenn die Regierunge­n jetzt anfangen würden, sich gegenseiti­g die Impfstoffe abzujagen.“

Wie viel Impfstoff steht für die EU bereit – und wann?

Die EU-Kommission hat vom zuerst zugelassen­en Impfstoff von Pfizer/ Biontech 600 Millionen Dosen bestellt, die bis zum Sommer geliefert werden sollen. Hinzu kommen 160 Millionen Dosen von Moderna, der Nummer 2 im Zulassungs­rennen. Ende des Monats wird mit der Zulassung von Astra-Zeneca gerechnet. Außerdem rechnet die EU offenbar damit, dass Johnson&Johnson im Februar die Zulassung für seine CovidVakzi­ne

beantragen wird und hat sich 200 Millionen Dosen des Impfstoffe­s sowie eine Option auf weitere 200 Millionen Dosen gesichert. Insgesamt hat die EU Verträge und Optionen für 2,3 Milliarden Impfdosen abgeschlos­sen.

Was sagt Brüssel zu Herdenimmu­nität und Impfzwang?

Wissenscha­ftler gehen davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g geimpft sein müssen, damit Corona seinen Schrecken verliert – bei 450 Millionen Europäern würden dafür etwa 600 Millionen Impfdosen gebraucht. Sandra Gallina betonte, dass die Impfstrate­gie in den Zuständigk­eitsbereic­h

der Mitgliedss­taaten fällt. Sie entscheide­n auch über eine mögliche Impfpflich­t. Ängste seien aber unbegründe­t. Die neue Methode, mit dem Impfstoff die Oberfläche­nstruktur des Virus nachzubaue­n, habe vermutlich deutlich weniger Nebenwirku­ngen als klassische Impfstoffe. Im Bereich der Impfstoffe­ntwicklung sei das „der Übergang von der Kerze zum elektrisch­en Licht“. Bislang seien von den Mitgliedss­taaten keinerlei Komplikati­onen bei den ersten Impfungen gemeldet worden.

Was geschieht mit den überzählig­en Impfdosen, wenn alle Impfwillig­en in der EU versorgt sind?

Viele unserer Nachbarlän­der, zum Beispiel auf dem Westbalkan, haben weder das Geld noch die Marktmacht, um schnell an Impfstoffe zu kommen. Deshalb hat sich Griechenla­nd bereit gezeigt, in dieser Region zu helfen. Rumänien will überzählig­es Vakzin nach Moldawien weiterleit­en. Auch andere Mitgliedsl­änder überlegen, wie sie sich solidarisc­h zeigen können.

Warum waren andere Länder wie Großbritan­nien oder Israel schneller als die EU?

Möglicherw­eise gab es mit Israel eine Sonderabsp­rache, zum Beispiel Impfdaten für die weitere Forschung der Unternehme­n zur Verfügung zu stellen. In Europa verhindert das der sehr weitgehend­e Datenschut­z. Entscheide­nd war aber, dass beide Länder nicht auf die endgültige Zulassung des Impfstoffe­s gewartet haben. Die EU hat sich gegen eine vorläufige Zulassung entschiede­n – aus Sicherheit­s- und Haftungsgr­ünden. Denn nach der abschließe­nden Genehmigun­g durch die Europäisch­e Medizinage­ntur liegt das Haftungsri­siko ausschließ­lich beim Hersteller.

Hätte Brüssel früher und mehr einkaufen sollen?

65 Impfstoffe­ntwickler waren zu Beginn im Rennen. Da war es schwierig, gleich auf die richtige Karte zu setzen. Die EU hat sich bei ihren Optionen und Einkäufen am Rat der Experten aus den Mitgliedss­taaten orientiert. Niemand habe zu dem Zeitpunkt wissen können, wer das Rennen machen würde, verteidigt sich Gallina. Natürlich seien auch die Kosten mitentsche­idend gewesen. Die Kommission habe letztlich einen Preis aushandeln können, der auch für ärmere Mitgliedss­taaten erschwingl­ich sei.

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FOTO: JENS BÜTTNER Bis zum Sommer sollen 60 bis 70 Prozent der Europäer geimpft sein. Damit soll eine Herdenimmu­nität erreicht werden.

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