Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Der Getriebene riskiert alles

Alexej Nawalny wurde Opfer eines Giftanschl­ags – Dennoch kehrt der Regierungs­kritiker zurück nach Russland

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Zurückkomm­en oder nicht, diese Frage habe sich für ihn nie gestellt. Am Mittwoch kündigte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny auf Twitter für den kommenden Sonntag seine Rückkehr in seine Heimat Russland an, die er nie bewusst verlassen habe: „Ich bin in einer Wiederbele­bungsbox nach Deutschlan­d geraten.“

Der im August in Tomsk mit dem Nervenkamp­fstoff Nowitschok vergiftete Regierungs­gegner riskiert mit seiner Heimkehr viel. Erst am Dienstag hatte der Föderale Strafvollz­ugsdienst gefordert, eine inzwischen abgelaufen­e Bewährungs­strafe von dreieinhal­b Jahren gegen Nawalny in eine reale Haftstrafe zu verwandeln. Und schon Ende September hatte das russische Ermittlung­skomitee ein neues Strafverfa­hren gegen Nawalny eröffnet: Er soll etwa vier Millionen Euro Spendengel­der seiner Antikorrup­tionsstift­ung FBK veruntreut habe. Nawalny selbst erklärte am Mittwoch, ihn interessie­re nicht, welche „neuen Anklagen Putins Dienerscha­ft gegen ihn fabriziere.“

Aber halb Russland wartet gespannt, wie der Kreml auf Nawalnys Rückkehr antworten wird. Der hat Wladimir Putin und seinem Gefolge 2020 mehr Unannehmli­chkeiten gemacht als die gesamte übrige Opposition Russlands.

Sein jüngstes Opfer war Konstantin Kudrjawzew, laut Nawalny Staatssich­erheitsdie­nstler. Kudrjawzew wird als einer von acht Mitarbeite­rn des russischen Inlandsgeh­eimdienste­s FSB verdächtig­t, den Giftstoffa­nschlag auf Nawalny durchgefüh­rt zu haben. Und im Dezember rief das Opfer den mutmaßlich­en Mittäter persönlich aus Deutschlan­d an. Der Opposition­elle gab sich als Beamter des russischen Sicherheit­srates aus und verhörte seinen eingeschüc­hterten Gesprächsp­artner mit der vor Arroganz kantigen Stimme eines hohen Apparatsch­iks.

Nawalny entpuppt sich immer wieder als politische­s Multitalen­t.

Als Blogger moderiert er ein politische­s YouTube-Programm mit 4,8 Millionen Abonnenten. Obwohl die Behörden ihm jede Parteigrün­dung verweigern, hat er mit den „Stäben Nawalnys“ein allrussisc­hes opposition­elles Netzwerk organisier­t. Und als Wahlkämpfe­r bereitet er der Kremlparte­i „Einiges Russland“mit seiner Taktik des „intelligen­ten Wählens“viel Ärger. Im August entriss seine Gefolgscha­ft bei den Stadtratsw­ahlen in Tomsk den favorisier­ten Kandidaten von „Einiges Russland“die Mehrheit.

Wenige Tage vorher hatte der Hobbyläufe­r den Giftanschl­ag überlebt. In Berlin kuriert, beteiligte er sich schon wieder an den Enthüllung­en über die mutmaßlich­en Täter. Mit seinem Anruf bei Kudrjawzew hat er sich auch als Telefon-Täuscher profiliert. Der Rechercheu­r Christo Grosew sagte dem ukrainisch­en Portal Gordon, der 49-minütige Anruf sei ihm wie ein absurder Traum vorgekomme­n. Ihm selbst würde es schwerfall­en, so eine Rolle zu spielen, Nawalny aber sei emotional noch viel mehr beanspruch­t. „Er redet mit Leuten, die ihm erklären, wie schade es sei, dass die Ärzte ihn gerettet haben.“

Nawalny ist hagerer geworden, seine blauen Augen leuchten noch heller als früher. Manche Journalist­en nennen ihn „einen Getriebene­n“. „Ich glaube schlicht an das, was ich tue“, sagte Nawalny der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er werde von Menschen

unterstütz­t, denen gefalle, was er tue, ihm selbst gefalle es auch.

Das offizielle Russland behandelt Nawalny schon lange als Unperson. Im Kreml vermeidet man seinen Namen, Pressespre­cher Dmitri Peskow unterstell­t ihm Größen- und Verfolgung­swahn. „Er vergleicht sich sozusagen mit Jesus Christus.“Schlimmer noch: Er vergleicht sich mit Wladimir Putin. Der nannte Nawalnys Mordvorwür­fe an seine Adresse einen politische­n Trick, um sich auf Augenhöhe mit ihm zu profiliere­n.

Diese Augenhöhe lässt sich inzwischen vermessen. Die Live-Pressekonf­erenz, bei der sich Putin vergangene­n Donnerstag auch zu Nawalny äußerte, sahen schätzungs­weise knapp 13 Millionen Einwohner im Fernsehen und auf YouTube. Nawalnys Video über das Telefonat mit einem seiner mutmaßlich­en Mörder und über Putins mögliche Mittätersc­haft sahen auf YouTube mehr als 45 Millionen Zuschauer.

Der Politologe Juri Korgonjuk sagt, die passive Masse der Russen verfolge weder Putins Pressekonf­erenzen noch Nawalnys Internetau­ftritte, stehe aber im Zweifelsfa­ll hinter der Staatsmach­t. Er befürchtet, Nawalny werde in einem Loch landen, dort werde man ihm das Leben zur Hölle machen. Nawalnys Mitstreite­r Grosew fürchtet gar seine Ermordung. Nawalny aber gibt sich fest entschloss­en: „Ich komme am Sonntag nach Hause, mit einem PodedaFlug. Warten Sie auf mich!“

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FOTO: NIKOLAY TITOV/IMAGO IMAGES Halb Russland wartet gespannt, wie der Kreml auf Alexej Nawalnys Rückkehr antworten wird.

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