Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Spuren des Lebens
Michael Wildenhain schreibt in „Die Erfindung der Null“über den Verlust von Idealen
Zu Westberliner Zeiten kickte Michael Wildenhain mit seiner Studentenmannschaft „Lokomotive Reichstag“auf der Wiese vor dem PaulWallot-Bau. Mancher seiner Sportkameraden ging später zur Polizei, weil er da die Möglichkeit sah, auch während der Arbeitszeit Sport zu treiben. Zu seltsamen Szenen kam es, wenn die Teamkollegen sich bei Demonstrationen gegenüberstanden: Hausbesetzer auf der einen, Polizisten auf der anderen Seite. Da ging es nicht immer sportlich zu ...
In den 1980er-Jahren zog Michael Wildenhain durch Kreuzberger Kneipen und verkaufte die „taz“. Als „Chronist des Berliner Häuserkampfes“machte er sich einen Namen. Sein Debüt „Zum Beispiel K.“(1983) musste vor dem Erscheinen im linken Rotbuch-Verlag extra noch von einem Anwalt auf „systemfeindliche Passagen“gegengelesen werden. Das aber ist ein paar Jährchen her. Lange schon hat der 1958 in Westberlin geborene Autor, der heute Mitglied der Linkspartei ist, sich einen weiteren Kosmos erschrieben. Mit „Das Singen der Sirenen“(2017) war er für den Deutschen Buchpreis nominiert (da zählt man dann schon zum Establishment), und in seinem neuen Roman „Die Erfindung der Null“dreht sich alles um den Verlust von Idealen ganz allgemein und um die Spuren, die das Leben hinterlässt.
Im Zentrum steht Doktor Martin Gödeler, ein gescheiterter Mathematiker, der als junger Mann großes vorhatte und sich jetzt als popeliger Nachhilfelehrer in Stuttgart über Wasser hält. Seine Habilitation über die Riemannsche Vermutung, in der diskrete und kontinuierliche Mathematik einander begegnen, hat er aufgegeben und haust als Schatten seiner selbst in einer völlig verwahrlosten Wohnung. Von Ehefrau Sybille hat er sich getrennt. Seine Geliebte Elisabeth Lucile Trouvé, ebenfalls Doktor der Mathematik und politische Aktivistin, hat den Kontakt zu ihm abgebrochen, weil sie nach einem Anschlag auf die Siegessäule untertauchen musste. Nur eine gewisse Susanne Mehlforsch, die ihm seit Jahren hoffnungslos verfallen ist, hält noch den Kontakt. Es hat schon etwas von Stalking, wie sie ihm hinterherläuft. Er steigt auch schon mal mit ihr ins Bett, obwohl ihm mittlerweile das Leben eines Menschen nicht viel mehr bedeutet als die Manipulation einer Gleichung.
Weil eben jene Susanne Mehlforsch nach einer gemeinsamen Wanderung mit Gödeler durch die Verdon-Schlucht in Frankreich spurlos verschwunden ist, findet sich der Nachhilfelehrer, ehe er es sich versieht, in Untersuchungshaft wieder, wo ihn ein junger Staatsanwalt verhört. In einzelnen Rückblicken, die sich kompositorisch an der Logik eines mathematischen Beweises orientieren, gibt Michael Wildenhain, der neben Informatik und Philosophie selbst Mathematik studiert hat, Einblick in die ungeklärten Ereignisse. Das liest sich spannend. Man merkt, dass Wildenhains Liebe zur Literatur einst mit Perry Rhodan und Edgar Wallace begonnen hat. Doch die Krimihandlung bildet nur die Blaupause für den darüber liegenden Text, der von den großen Desillusionierungen handelt, die das Leben so mit sich bringt.
Keine Frage: Michael Wildenhain kann Schreiben. Seine Sprache schwingt sich von der nüchternen Sachlichkeit eines Protokollstils auf zu wilden Passagen, in denen die Obsession sich Bahn bricht. Die Komposition des Romanes und die Anordnung der einzelnen Kapitel hält einen bis zum Schluss bei der Stange. Aber die erzählte Geschichte ist viel zu konstruiert und hat beinahe schon etwas Fantastisches. Manches erinnert an den Frankenstein-Experten Jörg Krippen aus „Das Singen der Sirenen“. Anderes an Wildenhains Roman „Träumer des Absoluten“(2008). Autobiographische Versatzstücke fließen ein und doch ist alles frei erfunden. Mit den Jahren hat dieser Schriftsteller sich einen ganz eigenen literarischen Kosmos erarbeitet. Geistes- und Naturwissenschaften liegen miteinander im Widerstreit, doch eine Lösung, wie die Existenz zu meistern ist, können beide nicht glaubhaft liefern. Die Ideale halten nicht stand. Ohne sie aber, ist ein Leben auch nicht möglich.
Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null. Klett-Cotta, 304 Seiten, 22 Euro.