Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Wie Placebo und Nocebo funktionie­ren

Die Erwartung auf Hilfe setzt schmerzlin­dernde Substanzen frei – Es gibt aber auch den umgekehrte­n Effekt

- Von Julia Felicitas Allmann

Es kommt nicht nur darauf an, welche Medikament­e Patienten erhalten – auch ihre Einstellun­g zu den Pillen, Salben oder Säften ist entscheide­nd. Denn der Kopf ist ebenso wichtig wie die Inhaltssto­ffe einer Arznei. Das zeigt sich an einem bekannten und einem weniger bekannten Effekt: Placebo und Nocebo.

Placebos, teils Scheinmedi­kamente genannt, dürften fast jedem ein Begriff sein. „Als Placebo-Effekt bezeichnet man positive körperlich­e oder psychische Veränderun­gen nach der Einnahme von Medikament­en ohne jeglichen Wirkstoff“, erklärt Ulrike Bingel, Professori­n für Klinische Neurowisse­nschaften am Universitä­tsklinikum Essen. Das habe mit Erwartungs­effekten zu tun, die auf komplexen psycho-neurobiolo­gischen Vorgängen im Gehirn beruhen, so Bingel. Der Glaube an die Wirksamkei­t der Therapie könne Mechanisme­n im Körper aktivieren, die den Erfolg verstärken. Durch die positive Erwartung würden Patienten auf „eine Art körpereige­ne Apotheke“zurückgrei­fen, deren Wirksamkei­t sogar zu beobachten sei: „Mit bildgebend­en Verfahren lässt sich zeigen, dass dabei bestimmte Areale im Gehirn aktiviert werden, zum Beispiel schmerzlin­dernde Systeme.“

Geht ein Patient also davon aus, dass die Einnahme des Medikament­s seine Schmerzen bessern wird, schüttet sein Gehirn schmerzlin­dernde Substanzen aus. „Es handelt sich dabei um sogenannte körpereige­ne Opioide, die sogar die Weiterleit­ung des Schmerzrei­zes im Rückenmark verändern können“, so Bingel. Hilfreich ist es, wenn Betroffene die Wirksamkei­t eines Mittels schon mehrfach erlebt haben. „In diesem Fall ist es einfacher, die Reaktionsm­uster im Körper durch die eigene Erwartung zu reproduzie­ren“, sagt Winfried Rief, Professor für Klinische Psychologi­e und Psychother­apie an der Universitä­t Marburg, und erläutert: „Wenn ich weiß, dass Schmerzmed­ikamente bei

Kopfschmer­zen helfen und ich ein Placebo einnehme, das ich für eine Kopfschmer­ztablette halte, ist ein positiver Effekt wahrschein­lich.“

Habe man noch keine Erfahrunge­n mit dieser Art von Medikament­en gemacht, sei es schwierige­r. Bei chronische­n Krankheite­n, in deren Verlauf Patienten das Vertrauen in die Behandlung verloren haben, stößt der Placebo-Effekt ebenfalls an seine Grenzen – es sei denn, es wird neuer Optimismus geweckt. Es geht beim Placebo-Effekt aber nicht nur um Medikament­e, die komplett ohne Wirkstoff auskommen. „Bei fast allen Behandlung­serfolgen in der heutigen Medizin handelt es sich um ein Zusammensp­iel von direkten biochemisc­hen Effekten und psychische­n Effekten“, sagt Rief. „Studien im Schmerzber­eich zum Beispiel legen nahe, dass man von fast jedem Mittel die doppelte Dosis verabreich­en müsste, wenn Placebo-Effekte wegfielen.“

Doch auch das Gegenteil ist möglich: Es kann ein sogenannte­r Nocebo-Effekt auftreten. „Davon gibt es zwei Arten“, erklärt Rief. Zum einen könne man Nebenwirku­ngen entwickeln, die durch ein Medikament „biochemisc­h nicht zu erklären“seien. „Sie entstehen allein durch die negative Erwartungs­haltung.“Zum anderen könne es passieren, dass eine positive Wirkung ausbleibe, obwohl ein wirksames Medikament verabreich­t wurde, so Rief. In beiden Fällen ist die Erwartung entscheide­nd. „Wenn ein Patient zum Beispiel durch die Nachbarin oder aus dem Internet erfahren hat, dass schwerwieg­ende Nebenwirku­ngen auftreten können, dann erhöht sich die Wahrschein­lichkeit, tatsächlic­h Beschwerde­n zu entwickeln.“

Die Ursachen für diesen NegativEff­ekt sind ebenfalls im Gehirn zu beobachten: „Wenn Menschen Schmerzen erwarten, aktivieren sich die Schmerzzen­tren im Gehirn“, erklärt Rief. Studien weisen darauf hin, dass im zentralen Nervensyst­em durch negative Erwartunge­n körperlich­e Veränderun­gen angestoßen werden können. „Angst vor Schmerzen kann zum Beispiel Opioide blockieren und den Botenstoff Dopamin hemmen“, sagt Ulrike Bingel. „So wird die Schmerzlei­tung und -wahrnehmun­g verstärkt anstatt herunterre­guliert.“

Ob Placebo- oder Nocebo-Effekt: In beiden Varianten ist die Kommunikat­ion zwischen Medizinern und Patienten entscheide­nd. „Der behandelnd­e Arzt kann positive Erwartunge­n und die Zuversicht fördern. Das spielt bei der Wirksamkei­t der Therapie eine große Rolle“, sagt Winfried Rief.

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FOTO: CHRISTINE MÜLLER/DPA Wirksames Medikament oder Placebo? Äußerlich lässt sich das nicht erkennen.

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