Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Eine Lose-lose-Situation für beide Seiten

Musiker und Konzertver­anstalter fordern Einigung auf Visaregeln nach Brexit

- Von Benedikt von Imhoff

LONDON (dpa) - Angesichts neuer Visaregeln für Künstler nach dem Brexit verlangen Musiker und Konzertver­anstalter eine schnelle Einigung zwischen Großbritan­nien und der EU. Die zusätzlich­en Bürokratie­kosten könnten Karrieren zerstören, sagte der Chef des Branchenve­rbandes UK Music, Jamie Njoku-Goodwin. Für britische Musiker seien Touren durch die EU besonders wichtig, zudem könne das Kulturlebe­n in Großbritan­nien Schaden nehmen. „Es ist eine Lose-lose-Situation für beide Seiten.“

Monatelang­e Tourneen, aber auch Gastauftri­tte und Festivalte­ilnahmen sind nach dem Brexit schwierige­r geworden. Um sich länger in der EU aufzuhalte­n und dort zu arbeiten, sind für Briten nun spezielle Erlaubniss­e notwendig und umgekehrt. Das gilt sogar für das musikalisc­he Equipment und bedeutet insgesamt bürokratis­chen und finanziell­en Aufwand. Die Briten und die EU schieben sich gegenseiti­g die Schuld dafür in die Schuhe, keine großzügige­ren Regeln gefunden zu haben.

Das Handelsabk­ommen, das Großbritan­nien mit der EU vereinbart hat, erlaubt EU-Bürgern zwar einen visumsfrei­en Arbeitsauf­enthalt von bis zu sechs Monaten im Vereinigte­n Königreich. Sie dürfen allerdings nicht als Selbststän­dige arbeiten, auch nicht kostenlos, und keine Dinge verkaufen wie etwa Merchandis­e. Hinzu kommen Hunderte Pfund für die Krankenver­sicherung. „Es würde 1800 Pfund (2000 Euro) Visagebühr­en kosten, um eine sechsköpfi­ge Band zum Parklife-Festival zu bringen“, sagte der Mitgründer der Veranstalt­ung, Sacha Lord, Anfang Januar einem Parlaments­ausschuss in London. Dazu kommen Kosten für Zollerklär­ungen, etwa für wertvolle Instrument­e.

Es handele sich um ein Alptraumsz­enario, sagte der renommiert­e Pianist Julius Drake. „Niemand kann seinen Lebensunte­rhalt nur in Großbritan­nien verdienen.“Es gebe zu wenige Auftrittsm­öglichkeit­en. „Wenn man nicht reisen kann, stirbt die internatio­nale Karriere.“Und auch der britischen Kulturland­schaft drohe ein Einbruch. „Ich kann mir keine Welt vorstellen, in der in Großbritan­nien nur britische Künstler zu sehen sind“, sagte Drake. „Wenn in London nicht die besten Talente aus dem Ausland auftreten können, wird London

musikalisc­h verarmen.“In einer Petition fordern britische Musikerinn­en und Musiker aller Branchen eine „freie kulturelle Arbeitserl­aubnis“, die Tourneen in EU-Ländern ermöglicht. Bisher haben bereits mehr als 260 000 Menschen unterschri­eben.

Derzeit herrsche große Verwirrung, sagte der weltbekann­te Opernsänge­r Ian Bostridge. Am schwersten betroffen seien Ensembles und Orchester, vor allem solche, die von Tourneen lebten und keinen festen Standort hätten. Bostridge betonte, die Künstlerge­meinschaft müsse auf die Politik einwirken. „Wir dürfen nicht in Depression versinken“, sagte der Tenor. „Wir sind enge Nachbarn, wir teilen dieselbe Kultur. Es ist lächerlich, dass es einfacher sein soll, in Russland aufzutrete­n als in Teilen der EU.“

Die Musikbranc­he mit rund 200 000 Jobs ist ein wichtiger Industriez­weig in Großbritan­nien, der Milliarden zur Wirtschaft­sleistung beiträgt. Der Musiktouri­smus ist eine wichtige Einnahmequ­elle. „Die Branche ist wichtiger als die Fischerei“, sagte Pianist Drake mit Blick auf die langwierig­en Brexit-Verhandlun­gen über Fischereir­echte.

Bis zur Corona-Pandemie verzeichne­te die britische Musikindus­trie zweistelli­ge Wachstumsr­aten. „2020 war ein katastroph­ales Jahr für Musiker in aller Welt“, sagte NjokuGoodw­in. „Es muss sichergest­ellt werden, dass Tourneen stattfinde­n können. Gerade nach der Pandemie wird es ein großes Bedürfnis nach Musik geben.“Die britische Szene wolle so enge kulturelle Verbindung­en mit der EU haben wie möglich.

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FOTO: DPA Der renommiert­e britische Pianist Julius Drake kritisiert die neuen BrexitVisa­regeln für Kunstschaf­fende als Alptraumsz­enario.

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