Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Beten und Arbeiten gegen TikTok

Armut, Alkohol und Gewalt zerrütten Russlands Familien – Wie ein Krisenzent­rum versucht, jungen Frauen zu helfen

- Von Stefan Scholl

TWER - Vor Kurzem haben sie eine Frau mit drei Kindern entlassen. „Sie wollte nach Hause, weil ihr Mann aus dem Gefängnis kommt“, Anna Dudenkowa, die Leiterin, seufzt. „Aber es ist zu befürchten, dass er sie wieder verprügelt.“Auf dem Tisch im Esssaal stehen Teller mit Kartoffels­uppe, die eine der Frauen gekocht hat, Fladenbrot, das eine georgische Bäckerei, und Bohnensala­t, den ein Schnellres­taurant gespendet hat.

Annas Krisenzent­rum „Ein Leben“bei der Wolgastadt Twer ist ein großes, dreistöcki­ges, unverputzt­es Haus. Es steht in der vom frostweiße­n Bärenklau gesäumten Waldlandsc­haft zwischen der Umgehungss­traße und der nahen Mautautoba­hn. Das Haus hat noch keinen Gasanschlu­ss, Brennholz ist knapp, aber hier gibt es größere Not.

Solche Einrichtun­gen heißen heute in Russland Krisenzent­ren, früher waren sie als Frauenhäus­er bekannt. Das Frauenrech­tsportal nasiliu.net zählt in Russland über 170 davon, private, kirchliche oder – seltener – staatliche Häuser. Annas „Ein Leben“ist eine Zuflucht wie Maxim Gorkis „Nachtasyl“– aber für Frauen, die ganz unten gelandet sind. Ledige oder geschieden­e Mütter, Mütter mit Kindern, ohne Kinder. Und meist alkoholode­r drogenabhä­ngige Frauen, die hier die Chance auf Rehabilita­tion bekommen.

„Zu unserer Therapie gehören Arbeit, Disziplin und Gebet“, Anna, 35, lächelt. „Und täglich eine Stunde für jede Mutter und ihre Kinder, wo sie lesen, spielen oder einfach nur miteinande­r sprechen.“40 Prozent der Frauen schafften es, die übrigen gerieten wieder in ihre alten Abhängigke­iten. „Das ist eine ziemlich gute Rate“, sie lächelt wieder. Anna lächelt viel, als wolle sie gegen die Ängste und Alpträume, die sie umgeben, anlächeln. Aber es ist auch das Lächeln einer Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hat. Ihre kurzen Fingernäge­l hat sie hoffnungsv­oll weiß lackiert.

Die Obergescho­sse riechen nach frischem Holz, mehrere der elf Zimmer dienen als Lager für Baumateria­lien. Seit der Gründung 2015 waren hier über 150 Frauen mit ebenso vielen Kindern. Gerade leben im Haus vier, drei sind bereit zu reden.

Jelena spricht drei Fremdsprac­hen, hat als Stewardess gearbeitet, jetzt ist sie hochschwan­ger. Sie fühlt sich hier sichtlich wohl, erzählt von den drei Männern ihrer Mutter, der erste fiel einem Raubüberfa­ll, der zweite einem Infarkt zum Opfer. „Deshalb fing auch ihre Mutter an zu trinken“, sagt Anna. Jelena erzählt ausführlic­h von ihren wechselnde­n und immer wieder drogensüch­tigen

Freunden, von den ersten Amphetamin­en, die sie schluckte, davon, dass sie zurück möchte, zu ihrer wirklichen Familie. Jelena lächelt auch.

Oksana, eine hünenhafte Bäuerin, ist mit ihren drei Kindern hier. Auch ihre Eltern tranken, prügelten sich, auch sie begann zu trinken, ihr erster Mann starb an Drogen, mit dem zweiten zerstritt sie sich. Sie lebt ein Jahr hier, ist trocken und hat wieder Selbstvert­rauen. „Ich will einmal ein Altersheim leiten.“

Natascha aber weint, ihre Mutter starb, ihr Vater trank, sie wuchs im Heim auf, geriet an Drogen, landete auf der Straße. Ihr Kind wurde ihr abgenommen. Jetzt hat das Zentrum einen neuen Pass für sie beantragt, sie braucht auch eine amtliche Anmeldung, um ihr Sorgerecht neu zu beantragen. „Es wird schwer werden“, sagt Anna.

Anna selbst war heroinsüch­tig und obdachlos, auch sie hatte das Sorgerecht für ihre Tochter verloren.

„Irgendwann wollte ich mich nur noch umbringen. Mir fehlte bloß der Mut, aus dem Fenster zu springen.“Anna fand ihre Rettung in einem anderen evangelisc­hen Heim für Trinkerinn­en, dort traf sie erstmals Leute, die die Sucht besiegt hatten. „Trotzdem war jeder Tag in der Rehabilita­tion ein Kampf.“

Insgeheim gelten die Frauen als Russlands starkes Geschlecht, attraktiv, arbeitskrä­ftig, selbstbewu­sst. Und die absolute Mehrheit im Land. 78,7 Millionen Frauen stehen hier 68,1 Millionen Männern gegenüber. Aber laut dem staatliche­n Statistika­mt sind nur 53,2 Prozent der Russinnen berufstäti­g, entgegen dem Mythos, 70 Jahre Sowjetsozi­alismus hätten die Frauen vollständi­g emanzipier­t. Die Frauen bekommen 27,9 Prozent weniger Gehalt, sie stellen laut der Zeitung „Kommersant“nur 5,7 Prozent der Aufsichtsr­äte russischer Betriebe und nur 15,8 Prozent der Parlamenta­rier.

Anna sagt, sie sei keine Feministin. „Der Mann ist das Familienob­erhaupt, diese Wahrheit steht schon in der Bibel.“Ein Mann, der wirklich an Gott glaube, werde seiner Frau oder seinen Kindern nie Leid antun.

Der Staatssich­erheitsdie­nst FSB war schon hier, hat geprüft, ob ihr protestant­isches Haus keine Sekte sei. Aber inzwischen hat das regionale Familienmi­nisterium Anna in seinen Gesellscha­ftsrat eingeladen. Kein Wunder: Zum einen gibt es nach amtlichen Angaben nur 14 staatliche Frauenhäus­er, viel zu wenig, die Behörden sind froh über jedes funktionie­rende Krisenzent­rum. Zum anderen predigt Anna keinen Feminismus.

Der halbstaatl­iche Mainstream zitiert jetzt wieder gern den sogenannte­n Domostroi, die patriarcha­lische Hausordnun­g des spätmittel­alterliche­n Russland. Dort war klar geregelt, wann und wie der Mann Frau und Kinder züchtigen soll. Seit 2017 verfolgt der Staat häusliche Gewalttate­n bei der ersten Anzeige nicht mehr als Gewalttat, sondern nur noch als Ordnungswi­drigkeit.

Die Statistik dieser Gewalt ist lückenhaft, aber so dynamisch, dass die Regierung kürzlich die Gebietsgou­verneure aufgerufen hat, mehr Krisenzent­ren einzuricht­en. 2014 wurden laut dem Frauenrech­tsportal Anna-center.ru 9600 Frauen von Familienan­gehörigen totgeschla­gen. 70 bis 90 Prozent der überlebend­en Opfer schweigen. Und nach Angaben der staatliche­n Menschenre­chtsbeauft­ragten Tatjana Moskalkowa gab es allein im April dieses Jahres 13 000 Fälle häuslicher Gewalt.

Die Frauen in der Region litten stark unter Gewalt, sagt die Historiker­in Valentina Uspenskaja, Leiterin des Zentrums für Frauengesc­hichte und Genderstud­ien an der Universitä­t Twer. „Unter Gewalt in der Familie, psychologi­scher Gewalt oder sexuellen Übergriffe­n.“Aber die erklärte Feministin betrachtet diese Gewalt auch als Folge des allgemeine­n Elends. „Das größte Problem unserer Frauen ist Armut, die Armut ist ein Fluch.“Anna sagt, bei ihr seien Frauen angekommen, die sich dafür das erste S-Bahn-Ticket ihres Lebens geleistet hätten.

Präsident Putin, nicht gerade ein Sozialkrit­iker, sagt, 13,5 Prozent der Russen lebten unter dem Existenzmi­nimum von umgerechne­t 130 Euro. Und diese Armutsgren­ze wirkt willkürlic­h: 64 Prozent der jungen Familien in Russland verbrauche­n nach einer amtlichen Umfrage all ihr Geld für Essen und Kleidung, kein Wunder bei einem offizielle­n Durchschni­ttsgehalt von 540 Euro. Oft scheint freier Fall der letzte Ausweg zu sein.

Laut dem Nachrichte­nportal RBK sterben jährlich 48 000 Russen an Alkoholmis­sbrauch. Das Gesundheit­sministeri­um beziffert die Zahl der Drogenopfe­r auf 8000, Experten aber schätzen 70 000 bis 100 000 Rauschgift­tote. Über eine Million Russen oder Russinnen sind HIV-positiv.

Suff und Gewalt entspringe­n nicht allein wirtschaft­licher Zerrüttung. Die Familien würden durch die verschiede­nsten Arten von Süchten zerstört, sagt Anna. Sie berichtet von Abhängigke­iten von tyrannisch­en Eltern oder Lebenspart­nern, über CoAbhängig­keiten von süchtiger Ehemännern, über die Mittelschu­ldroge Space, über minderjähr­ige BloggerMil­lionärinne­n als neue Jugendidol­e. Sie erzählt von TikTok-Russland. „Die Familien leben ohne Werte. Ehen ohne Trauschein gelten schon als Norm. Und niemand bringt den Mädchen die wirklichen Werte bei.“

Das offizielle Russland präsentier­t sich seit Jahren als Hort „traditione­ller Werte“, in deren Zentrum man die Familie platziert. „Wir rätseln, welche Werte damit gemeint sind“, sagt Genderfors­cherin Uspenskaja, „und aus welcher Epoche sie tradiert werden sollen: Russland vor der Mongolenhe­rrschaft, zur Zeit Iwan des Schrecklic­hen oder der Sowjetunio­n?“Putins neue Verfassung verkündet, der Staat schütze Mutterscha­ft und Kindheit ebenso wie die Familie. Ein löchriger Schutz. 2019 lag die Scheidungs­rate bei 65 Prozent der neu geschlosse­nen Ehen. 30 Jahre vorher, in der schon wackelnden UdSSR, waren es 42 Prozent. In Deutschlan­d, über dessen europäisch­e Sittenlosi­gkeit russische Medien gern lästern, sind es knapp 36 Prozent.

Als wir uns verabschie­den, klingelt Annas Handy, ein neuer Hilferuf: Eine junge Mutter aus einem Dorf südlich von Twer sucht mit ihren Kindern Zuflucht, ihr Mann hat sie aus dem Haus geprügelt.

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FOTO: STEFAN SCHOLL Anna Dudenkowa leitet in der Wolgastadt Twer ein Krisenzent­rum für Frauen.

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