Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Fehleinschätzungen sind naheliegend“
Ex-Staatsminister Julian Nida-Rümelin kritisiert Auswahl politischer Berater in der Corona-Krise
BERLIN - Ist die Regierung in ihrer Coronapolitik gut beraten? Nein, sagen Kritiker und werfen dem Bund vor, Experten zu einseitig auszuwählen. Zu Recht, sagt der Philosoph und Staatsminister a.d. Julian Nida-Rümelin (Foto: Imago Images) im Gespräch mit Igor Steinle.
Herr Nida-Rümelin, lässt die Regierung sich zu einseitig beraten?
Ich teile den Vorwurf seit März vergangenen Jahres.
Schon damals habe ich gesagt, die Pandemiestrategie ist eine hochkomplexe Angelegenheit, bei der ökonomische, soziale, kulturelle und Bildungsfragen eine Rolle spielen, das können unmöglich einzelne Virologen entscheiden. Das haben übrigens auch die Virologen von sich aus immer wieder öffentlich und meist vergeblich gesagt. Über Monate hinweg hat es ein Versteckspiel gegeben, in dem die Politik behauptete, sie täten nur das, was die Virologen ihnen sagen. Die Virologen aber sagen, wir können die Strategie als Ganzes gar nicht verantworten.
Sie sagen, es würde zu wenig über Alternativen gesprochen. Welche?
Die radikale Eindämmungsstrategie etwa, wie sie in Taiwan angewendet wurde. Ihr zufolge hätte man von Beginn an massiv interveniert und nicht erst abgewartet, so wie wir es getan haben. Und natürlich die Strategie, nach der man die Gefährdeten schützt und das Infektionsgeschehen nur zum Teil einschränkt. Auch das ist nicht versucht worden. Bis vor Kurzem galt, man könne Pflegeheime nicht schützen, die Infektionen dort würden sich immer proportional zum allgemeinen Infektionsniveau abspielen. Das ist schlicht falsch, wie das Beispiel Tübingen zeigt. Durch die Impfungen werden die vielen Todesfälle in Alten- und Pflegeheimen nun hoffentlich aufhören. Und dann muss man berücksichtigen, dass das Sterberisiko extrem ungleich verteilt ist. Bei Menschen unter 35 ist es geringer als bei der gewöhnlichen Influenza.
Sie haben im Sommer mit Boris Palmer und anderen aufgerufen, ältere Menschen besser zu schützen.
Es hieß, das gehe nicht, die Risiken seien zudem gar nicht so ungleich verteilt. Das kann man jetzt nicht mehr bestreiten, die Statistiken sind eindeutig. Wir müssen die Belastungen für ältere Menschen und Bewohner von Pflegeheimen massiv reduzieren. Das gelingt dadurch, dass wir Menschen, die sich nicht selber schützen können, auch die Möglichkeit dazu geben, indem wir ihnen beispielsweise Essen liefern oder FFP2-Masken zur Verfügung stellen. Dann könnten wir auf allgemeine Shutdown-Maßnahmen verzichten.
Wieso bevorzugt die Regierung den Weg über den Shutdown?
Die Politik stand von Beginn an unter massivem Stress, alle wussten nur wenig, Fehleinschätzungen sind in solchen Situationen naheliegend. Dann muss man aber auch die Offenheit haben, sich immer wieder pluralistisch beraten zu lassen und unterschiedliche Positionen ernsthaft zu erwägen. Man kann sich von der Wissenschaft nur seriös beraten lassen, wenn man auch ihre internen Meinungsverschiedenheiten ernst nimmt.
Liefe das am Ende nicht darauf hinaus, Menschenleben abzuwägen?
Nein, das wäre ein Fehler. Wir können ökonomische Vorteile nicht gegen Menschenleben verrechnen. Es geht darum, eine Strategie zu verfolgen, die schonend ist, was ökonomische, soziale und kulturelle Belange betrifft, aber eben auch Rücksicht auf gefährdete Personen nimmt. Erst beides zusammen ist sinnvoll. Um es kurz mathematisch darzustellen: 90 bis 95 Prozent der Menschen, die durch Covid-19 zu Tode kommen, sind über 70 Jahre alt, Vorerkrankungen sind ebenfalls ausschlaggebend für schwere Verläufe. Wenn man rein rechnerisch sagt, wir könnten diese über 70-Jährigen verlässlich schützen – und wir hätten sie schützen können, wenn die nötigen Maßnahmen vor Monaten ergriffen worden wären –, dann bedeutet das, dass die Letalität von Covid-19 deutlich unter das Niveau einer saisonalen Grippe fallen würde. Wollen wir in Zukunft Shutdown-Maßnahmen bei einer saisonalen Grippe verhängen? Wenn wir das verneinen, können wir bei einem Risiko, das niedriger ist als das einer saisonalen Grippe, nicht mit einem Shutdown verfolgen.