Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Todkrankes Gesundheitssystem
In Manaus in Brasilien mangelt es Krankenhäusern während der Corona-Pandemie an Sauerstoff – Dramatische Szenen vor Kliniken
MANAUS (dpa) – „Sie wollen meinen Vater nicht aufnehmen. Er stirbt hier“, ruft Marcos Platiny und zeigt auf einen schwerkranken Mann auf einer Trage. Dann lehnt er sich verzweifelt gegen die geschlossene Tür der Notfall-Krankenstation „Campos Salles“im Westen der brasilianischen Amazonas-Metropole Manaus. Ein Arzt sei noch herausgekommen und habe versucht, seinen Vater zu reanimieren, zu helfen, ihn woandershin zu bringen, erzählt Platiny unter Tränen im Fernsehen. Aber man habe ihm gesagt, dass das vergebens sei.
Es gibt in Manaus in Folge der Corona-Pandemie fast keine freien öffentlichen Krankenhaus- und Intensivbetten mehr. Die Bilder des Senders „TV Bandeirantes“stammen nicht etwa aus dem April des vergangenen Jahres, sondern sind erst wenige Tage alt. Das Gesundheitssystem in Manaus ist zum zweiten Mal kollabiert.
Brasilien, wo erst vor gut einer Woche mit den Impfungen begonnen wurde, ist eines der am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Länder. Bislang haben sich im größten Land Lateinamerikas mehr als 8,6 Millionen Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert – nur in den USA und in Indien sind die Zahlen noch höher. Zudem sind rund 213 000 Patienten in Brasilien im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben – das ist weltweit Platz zwei. Manaus, die Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, registrierte zuletzt die meisten Klinikaufenthalte im Zusammenhang mit Covid-19 seit April 2020.
Diesmal aber sind nicht nur die Kliniken überfüllt und neue Gräber werden ausgehoben. Jetzt geht den Hospitälern der Zwei-MillionenStadt mitten im Regenwald auch noch der Sauerstoff aus. „Das ist das Dramatischste“, sagte Padre Cândido Cocaveli, der von Manaus aus Gemeinden im Bundesstaat Amazonas betreut und dabei vom katholischen Hilfswerk „Adveniat“unterstützt wird, der Deutschen Presse-Agentur. „Es ist der totale Kollaps, auch der Behörden.“Vor allem Alte und Kranke ersticken jeden Tag in den überfüllten Hospitälern oder daheim, weil seit Tagen der Sauerstoff das knappste und wertvollste Gut der Stadt ist.
Corona-Patienten bitten angesichts des Chaos und des Leidens um sie herum, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, Familienangehörige versuchen verzweifelt, irgendwo Sauerstoff herzubekommen, berichtete die Zeitung „O Globo“. Die Kapazität der Stadt zur Sauerstoffproduktion deckt nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen weniger als ein Drittel des derzeitigen Bedarfs.
Der brasilianische Gesundheitsminister Eduardo Pazuello gab zu, bereits rund eine Woche vor dem Zusammenbruch gewarnt worden zu sein, dass Sauerstoff fehlen könnte. „Dies war eine Überraschung“, sagte Pazuello. Er war vor zwei Wochen zur Vorstellung eines Anti-Covid-19-Plans selbst in Manaus gewesen. Und auch am vergangenen Sonntag flog der Minister nach Manaus, um die Kritik
Padre Cândido Cocaveli zur Lage in Manaus an sich zu lindern, und er brachte Tausende Impfungen gegen das Coronavirus mit.
Schließlich lieferte die brasilianische Luftwaffe Sauerstoff nach Manaus und flog Patienten in andere Bundesstaaten aus. Präsident Jair Bolsonaro sagte dazu: „Wir haben unseren Teil mit finanziellen Mitteln getan.“Sogar aus dem benachbarten Krisenstaat Venezuela, dessen autoritär regierenden sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro Brasiliens rechter Staatschef nicht anerkennt, kamen Lastwagen mit Sauerstoff an.
Die Lieferung von mehr als 100 000 Kubikmetern Sauerstoff entsprach den Angaben zufolge dem Bedarf von eineinhalb Tagen. So hangeln sich die Menschen in Manaus von Tag zu Tag und von Lieferung zu Lieferung. „Wir warten immer noch, ob es ihnen wieder gelingt nachzuliefern. Das Gesundheitspersonal ist sehr beklommen, weil wir nicht wissen, ob der Sauerstoff reichen wird oder nicht“, sagte eine Ärztin, die an vorderster Front gegen das Coronavirus kämpft und nicht namentlich genannt werden wollte, der Zeitung „El País“.
„Trotz der Lieferung von Sauerstoff in Flaschen und Tanks hat sich die Situation in Manaus noch längst nicht normalisiert“, stellte „O Globo“fest. Manaus könnte der Vorbote für die weitere Entwicklung im Rest des Landes sein. Auch in der ersten Welle kollabierte die Amazonas-Metropole als eine der ersten brasilianischen Städte. Wissenschaftlern zufolge dürfte Brasilien in den kommenden Wochen eine der schlimmsten Phasen der Pandemie erleben. „Mein WhatsApp gleicht einem Totenregister“, sagte Padre Cândido.
Eine womöglich besonders ansteckende Virusmutation, die just in Manaus gefunden wurde, verschärft die Lage zusätzlich. Sogar in Deutschland wächst deswegen die Sorge, Reisende aus Brasilien stehen nun unter spezieller Beobachtung, bei einem Reiserückkehrer in Hessen wurde die Variante bereits nachgewiesen. In einer Covid-19-bedingten Reisewarnung des Auswärtigen Amtes heißt es: „Aufgrund der aufgetretenen Variante wird Brasilien seit dem 19. Januar 2021 als Gebiet mit besonders hohem Infektionsrisiko (Virusvarianten-Gebiet) eingestuft.“
Die Lage in Brasilien dürfte sich zunächst im Inneren des Bundesstaates Amazonas verschlimmern, wo die Infrastruktur noch schwächer ist als in der Hauptstadt Manaus. In der Gemeinde Coari etwa, 450 Kilometer von Manaus den AmazonasStrom hinauf, starben nach Angaben des Nachrichtenportals „G1“sieben Covid-19-Patienten, weil sie nicht mit Sauerstoff versorgt werden konnten. „Das Komplizierte ist: Wir sind 62 Gemeinden im Bundesstaat, und nur die Hauptstadt hat Intensivbetten“, sagte Padre Cândido. Allein der Bundesstaat Amazonas ist etwa 4,5 mal größer als Deutschland.
Schwer kranke Corona-Patienten aus Coari oder Tefé und São Gabriel da Cachoeira tief im Amazonas-Gebiet, wo die Organisation Ärzte ohne Grenzen Hilfe leistet, mussten bereits zuvor per Schiff oder Flugzeug ins Hunderte Kilometer entfernte Manaus gebracht werden. Pierre Van Heddegem, Brasilien-Koordinator von Ärzte ohne Grenzen, sagte: „Aufgrund der Überlastung der Krankenhäuser konnten wir in den vergangenen Wochen keine Patienten von Tefé nach Manaus fliegen. Drei Menschen sind gestorben, die mit einer Behandlung in einer größeren Gesundheitseinrichtung eine Überlebenschance gehabt hätten.“
„Es ist der totale Kollaps, auch der Behörden.“