Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Probelauf für die Tötungsmaschinerie
200 Menschen aus dem heutigen Kreis Biberach wurden von den Nazis in Grafeneck ermordet
LANDKREIS BIBERACH (sz/gem) Deutschland gedenkt an diesem Mittwoch der Opfer des Nationalsozialismus. Von Januar bis Dezember 1940 wurden in Grafeneck bei Münsingen etwa 10 000 Menschen von den Nazis ermordet. Wegen geistiger oder körperlicher Behinderungen waren sie in der Zeit des Nationalsozialismus als „lebensunwert“abgestempelt worden, als unnütze Esser, als Ballastexistenzen. Aus dem Gebiet des heutigen Landkreises Biberach fielen etwa 200 Menschen diesen Mordaktionen zum Opfer, vom dreijährigen Kind bis zur 81-jährigen Frau.
Heimatforscherinnen und -forscher aus dem Kreis Biberach sind seit einiger Zeit auf Spurensuche, um mehr über die Menschen, ihr Leben und das Geschehen vor gut 80 Jahren zu erfahren und an diese Menschen zu erinnern. Denn in fast jeder Kreisgemeinde gibt es Opfer dieser Mordaktion. Johannes Angele von der Interessengemeinschaft (IG) Heimatforschung Kreis Biberach fasst einige Ergebnisse der bisherigen Recherchearbeit für die SZ zusammen.
In manchen Familien ist das Schicksal der Oma oder des Onkels bekannt. In anderen Familien wurde nicht über die ermordeten Angehörigen gesprochen, aus falscher Scham. Oft ist nicht mal bekannt, dass eine Tante oder ein Großvater der beschönigend „Euthanasie“(„schöner Tod“) genannten Tötung zum Opfer gefallen sind. Diese Menschen drohen, in Vergessenheit zu geraten.
Dass Wilhelm Wiedenmann vom Josenhof bei Eberhardzell auch in Grafeneck in der Gaskammer starb, ist in der Familie Wiedenmann/Denzel durchaus bekannt. Nach Erhalt der Todesnachricht aus Grafeneck schrieb die Mutter an die Heil- und Pflegeanstalt Liebenau „… Angegeben wurde Grippe mit Hirnhautentzündung. Der Tod sei für ihn eine Erlösung gewesen. Die Leiche wurde verbrannt. Die Asche wollen wir nicht holen. Die Leiche hätten wir geholt ...“. An den Formulierungen ist zu erkennen, dass die Mutter diesen Aussagen nicht geglaubt hatte, aber vorsichtig formulieren wollte, um nicht mit dem Regime Schwierigkeiten zu bekommen. Pfarrer Häring schrieb zu Wilhelm Wiedenmanns Tod in seiner nichtöffentlichen Pfarrchronik: „Ein Opfer des Nationalsozialismus“.
Trotz aller Geheimhaltungsversuche ist in der Bevölkerung bald klar, dass in Grafeneck viele Menschen in der Gaskammer sterben. Um zu vertuschen, dass so viele Menschen in Grafeneck sterben, wurden die Todesmitteilungen auch von anderen Anstalten aus verschickt. So erhielt die Familie Müller aus Laupheim die Nachricht, dass ihr Sohn Josef auf Weisung des Reichsverteidigungskommissars nach Pirna-Sonnenstein verlegt worden sei und dort „am 29. September unerwartet in einem schweren epileptischen Anfall verstorben“sei. Aus den Transportlisten der Busse, die die Opfer nach Grafeneck brachten, geht aber hervor, dass er bereits am 11. September nach Grafeneck kam und am selben Tag dort in der Gaskammer starb.
Auch für den in Unlingen geborenen August Moosbrugger behauptete die offizielle Todesmeldung, er sei in Pirna-Sonnenstein gestorben. Doch er war am 5. August 1940 direkt aus Zwiefalten nach Grafeneck in die Gaskammer gebracht worden. August Moosbrugger war während des Ersten Weltkriegs Torpedo-Leutnant, zuletzt im k.u.k.-Hafen in Pola, Istrien. Nach dem Krieg betrieb er ein Landhandelsgeschäft
in Riedlingen und handelte bis in die USA. Mit seiner Frau und der 1922 geborenen Tochter lebte Moosbrugger dann in Hamburg. 1928 erkrankte Moosbrugger und wurde in der Heilanstalt Zwiefalten und der Uniklinik Tübingen behandelt. Nach Moosbruggers Tod hielten seine in Hamburg lebende Frau und die Tochter die Verbindung zur Verwandtschaft in Unlingen aufrecht.
Kreszentia Mönig aus Haslach und Karl Villing aus Tannheim heiraten 1921 und haben fünf Kinder. 1929 stirbt Karl Villing bei einem Unglücksfall. Ein paar Jahre später erkrankt Kreszentia und wird dann in der Heilanstalt Weißenau betreut. Im Juli 1940 erhält ihr Bruder ein Schreiben aus Grafeneck, dass seine Schwester „plötzlich und unerwartet infolge einer Hirnhautentzündung verstorben ist“. Die Familie akzeptiert das Angebot aus Grafeneck, die Urne nach Tannheim zuschicken, wo sie im Grab von Karl Villing beigesetzt wird. Ob sich darin aber wirklich die Asche von Kreszentia befand, ist allerdings fraglich. Kreszentia wird auch auf dem Grabstein des Familiengrabs genannt.
Eugen Aich aus Ingoldingen war gleich im August 1914 als 17-jähriger Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg ausgerückt. 1916 wurde er leicht verwundet und kann ansonsten weitgehend unversehrt nach dem Krieg nach Hause gehen. 1925 erkrankt er und wird er in die Heil- und Pflegeanstalt Schussenried eingewiesen. Nach einem Jahr wird er wieder entlassen. 1927 wird er wieder in die Schussenrieder Einrichtung eingewiesen. Als 1940 die Listen zur Vorbereitung der T-4-Aktion erfasst werden, wird er mit einer Arbeitsfähigkeit von 70 Prozent eingetragen. Dennoch muss er am 14. Juni 1940 in einen der Busse nach Grafeneck einsteigen.
Der 1887 geborene Andreas Wehrle aus Unteropfingen galt in der Schule als hochintelligent, wollte aber nicht auf eine höhere Schule gehen. Später erkrankte er psychisch und kam in die „Heil- und Pflegeanstalt“Weißenau bei Ravensburg. Die Familie blieb im Kontakt mit ihm. Sein Bruder Konrad sagte immer wieder, er werde Andreas da rausholen, wenn der Krieg vorbei sei. Am 27. Mai 1940 starb Andreas in der Gaskammer von Grafeneck. Am 11. Februar 1941 wurde eine Urne mit angeblich seiner Asche auf dem Friedhof in Kirchdorf beigesetzt. Andreas ist auf dem Stein des Familiengrabs aufgeführt.
Während die Zwangssterilisationen angeblich „erbkranker“Menschen in der Propaganda offen thematisiert wurden, versuchten die Machthaber die Ermordungsaktion geheim zu halten. Dennoch sickerten immer mehr Details dazu durch. Die Gaskammer in Grafeneck wurde ab Dezember 1940 abgebaut und in Hadamar (Hessen) wieder aufgebaut. Das erfahrene Personal, Ärzte, Krankenschwestern, Techniker, „Brenner“der Krematorien, zog mit. Ab 1942 konnten sie dann ihre Erfahrungen in Auschwitz einsetzen.
In Grafeneck, nur 40 Kilometer Luftlinie von Biberach entfernt, wurden erstmals in der Geschichte der Menschheit im industriellen Stil Tausende
von Menschen ermordet – zwei Jahre vor Auschwitz und weiteren Vernichtungslagern. Der Probelauf der Tötungsmaschinerie fand quasi vor unserer Haustür statt. Das ist im Bewusstsein der Menschen hier in der Region vielfach nicht vorhanden.
Die Forschenden der IG Heimatforschung Kreis Biberach sind interessiert an weiteren Kontakten zu Angehörigen von Opfern der „Euthanasie“. Kontakt über Johannes Angele, Reinstetten, Telefon 07352 / 922615, oder per E-Mail an johannes@angele.de