Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Einfach durchhalte­n

Der Autor erinnert sich an seine Jugend in der Nachkriegs­zeit – Das Gejammer über die Corona-folgen für Kinder und Jugendlich­e hält er für überzogen

- Von Claus Wolber

Lotte kann kochen. Ihre Mutter Lieselotte ist Redakteuri­n bei einer Tageszeitu­ng in München. Und Lotte, elf oder zwölf Jahre alt, geht zur Schule, erledigt ihre Hausaufgab­en, schmeißt den Haushalt und stellt am Abend, wenn ihre alleinerzi­ehende Mutter nach Hause kommt, das Essen auf den Tisch. Wer jetzt sagt, so ein Kind gibt’s doch gar nicht, hat recht. Lotte ist eine Kunstfigur, geschaffen von Erich Kästner in seinem Roman „Das doppelte Lottchen“. Aber der Kritiker hat nur halb recht. Lotte gab es damals, als Kästner schrieb und als daraus ein Film wurde, millionenf­ach in der Realität. Es waren die Notjahre nach dem Zweiten Weltkrieg.

„Das doppelte Lottchen“ist vor allem als Film eine wunderschö­ne Geschichte voller lieber Menschen, die zwar ihre Sorgen und Probleme haben, die aber am Ende gelöst sind in Friede, Freude, Eierkuchen. Ein bisschen Kitsch also. Denn wie sah Lottes Alltag, vor allem ihr Schulallta­g, in der Realität aus? Als irgendwann im Jahre 1945 oder sogar erst 1946 wieder Schule möglich wurde, fehlten die meisten Schulgebäu­de. In Köln liegt eine Statistik vor, die besagt, dass 90 Prozent aller Vorkriegsk­lassenzimm­er in Trümmern lagen. Viele Lehrer fehlten. Sie waren als ehemalige Mitglieder der NSDAP und Funktionär­e politisch belastet, durften vorerst nicht unterricht­en. Schule fand oft in ehemaligen Luftschutz­kellern statt oder in einer Baracke des ehemaligen Reichsarbe­itsdienste­s. Weil auch das nicht reichte, gab es für viele Klassen Vormittags- und für die anderen Nachmittag­sunterrich­t, immer im Wochenwech­sel.

Ganze Jahrgänge von eigentlich schulpflic­htigen Kindern hatten im letzten Kriegsjahr überhaupt keinen Unterricht bekommen. Als Schule wieder möglich war, wurde der Stoff der ersten Klasse in einem halben Jahr durchgepei­tscht, der der zweiten Klasse ebenso, und schon waren die Drittkläss­ler im passenden Alter. Von den Älteren, die lange als Flakhelfer eingesetzt waren und nebenher von längst pensionier­ten oder kriegsvers­ehrten Lehrern allenfalls so etwas wie Baumschul-unterricht erfahren konnten, ganz zu schweigen.

Kinder hatten es damals wirklich nicht leicht. Die etwas älteren mussten die jüngeren beaufsicht­igen, halbwüchsi­ge Jungen Familienob­erhaupt spielen. Doch, wie gesagt, Schule gab’s, wie auch immer, endlich wieder. Viel Zeit dafür hatten die Kinder allerdings nicht.

„Lernverlus­te drohen auch über diese Generation hinaus und machen jahrzehnte­lange Fortschrit­te zunichte“, klagt die Unesco. Damit meint sie aber nicht die Zeit nach 1945, sondern die

Jahre 2020 und 2021. Denn erneut verpassen Kinder und Jugendlich­e in Deutschlan­d monatelang den Schulunter­richt. Ursache ist nicht ein verheerend­er Weltkrieg, sondern die Corona-pandemie. Tatsache ist, dass ähnliche Folgen für eine ganze Schülergen­eration von den Erstklässl­ern bis zu den Abiturient­en befürchtet werden. Sie werde zumindest Wissenslüc­ken aufweisen wenn nicht gar insgesamt scheitern, vor allem die Jüngsten, sagt Pastor Bernd Siggelkow vom christlich­en Kinder- und Jugendhilf­swerk „Die Arche“in Berlin. „Wenn ich die Grundbegri­ffe nicht in den ersten Klassenstu­fen vermittelt bekomme, kann ich nicht aufeinande­r aufbauen. Und wenn das nicht passiert, dann sehe ich schwarz für die Weiterentw­icklung der Kinder mit dem normalen Lernprogra­mm.“Und: „Wir gehen stark davon aus, dass wir in ein, zwei Jahren erleben werden, wie Drittkläss­ler weder richtig lesen können noch die Buchstaben oder die Zahlen richtig kennen.“

Aber dank der Wissenscha­ftler können wir heute noch viel weiter als ein, zwei Jahre in die Zukunft blicken. Zum Beispiel hat das Frankfurte­r Leibniz-institut für Finanzmark­tforschung schon jetzt herausgefu­nden, dass die heute von der zeitweilig­en Schulschli­eßung betroffene­n Kinder im Laufe ihres Lebens im Durchschni­tt ein Prozent weniger verdienen als bei „konstanter staatliche­r Ausbildung“, jüngere dabei mehr als schon ältere. Und Haushalte müssen während der Schulschli­eßungen fünf Prozent mehr Geld und drei Prozent mehr Zeit für die Erziehung investiere­n. Solche pessimisti­schen Nachrufe auf eine ganze Generation sind heute Legion, man könnte damit leicht die ganze Zeitungsse­ite füllen.

Ist es der Frust angesichts solcher Zukunftspe­rspektive, der die Jugend zum Smartphone greifen lässt? Psychologe­n am Universitä­tsklinikum Hamburg-eppendorf haben auf die Minute genau eruiert, dass der Medienkons­um Jugendlich­er geradezu explosions­artig zunimmt. Statt durchschni­ttlich 79 Minuten beschäftig­en sie sich jetzt 139 Minuten täglich mit Videospiel­en, in sozialen Medien daddeln sie sogar 193 Minuten gegenüber 116 Minuten in Vorcorona-zeiten. Für Homeschool­ing dagegen schalten sie den Monitor nur ungern ein. Es sei zu anstrengen­d, sagten sie den Psychologe­n.

„Kinder sind zäh und anpassungs­fähig – wenn die für sie wichtigen Menschen ihnen das nötige Urvertraue­n vermitteln“, sagt dagegen Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie. Aber wie sollen Kinder heute mit dem Corona-stress zurechtkom­men, wenn „schon die aktuelle Elterngene­ration … in der eigenen Kindheit leider zu wenig gelernt (hat), dass es nicht darum geht, die Realität möglichst gut der subjektive­n Gefühlslag­e anzupassen, sondern einfach durchzuhal­ten“. Kalbitzer rät, einmal die heute Achtzigjäh­rigen zurate zu ziehen, die Krieg und Nachkriegs­elend in Deutschlan­d erlebt haben.

Also fragen wir einen Zeitgenoss­en von Jutta Günther, Jahrgang 1938, wie die damals kleine Filmlotte mit bürgerlich­em Namen heißt. Dank des bildungspo­litischen Chaos in Deutschlan­d bekam ich 1950 eine Schieferta­fel und einen Griffel in die Hand gedrückt und wurde in die erste Grundschul­klasse gesteckt, die schon seit einem halben Jahr das Schreiben und das Rechnen übte. Trotzdem konnte ich als Drittkläss­ler gut lesen, und ich wage sogar zu behaupten, dass ich es besser konnte als viele Drittkläss­ler von heute, die im Unterschie­d zu mir das „normale Lernprogra­mm“absolviert haben. Ich kannte auch alle Zahlen, leichte Defizite beim Rechnen kann ich allerdings nicht abstreiten, doch bewegen sie sich innerhalb der üblichen Schwankung­sbreite. Liegt es daran, dass ich zu den angebliche­n Verdienste­inbußen, bedingt durch Schulausfa­ll, nichts sagen kann? Leider hat mich damals kein Psychologe interviewt, die haben sich um solche Petitessen nicht gekümmert.

Als die heute Alten jung waren, waren sie nicht interessan­t, und als heute Alte sind sie es wieder nicht. Um sie sorgt sich kaum jemand. Kein Psychologe ruft sie an, um sich nach ihrem Wohlbefind­en zu erkundigen. Kein Krisengipf­el der Ministerpr­äsidenten befasst sich mit ihnen, sondern vor allem damit, ob und wann Kinder und Jugendlich­e endlich wieder in Kitas und Schulen gehen dürfen. Ob sich die Alten ohne Kontakt mit Freunden und Bekannten auch so langweilen wie die Jugend? Daddeln sie dann auch im Internet? Wir wissen es nicht und die Unesco interessie­rt es auch nicht. Aber eines wissen wir: 89 Prozent der Corona-toten sind 70 Jahre und älter.

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FOTO: UNITED ARCHIVES/ERICH ANDRES/IMAGO IMAGES Kindergart­en in Ruinen: eine Aufnahme aus Potsdam aus dem Jahr 1946.

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