Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Das einsame Sterben

Die Corona-pandemie verändert die Arbeit der Pflegekräf­te in Altenheime­n – Vor allem wegen der hohen Todesrate der Bewohner

- Von Erich Nyffenegge­r

- Am stärksten hat sie der Spruch einer Freundin vor den Kopf gestoßen. Ganz beiläufig, vielleicht sogar als Trost gedacht, sagte die eines Tages: „Ganz neu ist das ja nicht, dass Leute im Altersheim sterben.“Simone Wolf glaubte zunächst, nicht richtig gehört zu haben. Nur weil sie als Altenpfleg­erin arbeitet und es gewohnt ist, dass ihre betagten Schützling­e diese irdische Welt eines Tages schließlic­h verlassen, erwartet man von ihr, sich nicht so anzustelle­n, wenn die Pandemie alte Menschen in den Heimen „nur so dahinrafft“, wie sie sagt? Simone Wolf, Mitte 30, die in Wahrheit anders heißt und überhaupt nur deshalb bereit ist, über ihre Arbeit in Zeiten der Seuche zu sprechen, wenn ausgeschlo­ssen wird, dass man erkennen kann, wo genau sie ihren Dienst tut, sagt: „Eigentlich war und bin ich gar nicht mehr richtig in der Lage, diese Arbeit zu machen.“Jeder Tod, den man begleite, verändere einen selbst auch ein bisschen. „Aber was wir erlebt haben, kann man nicht mehr verarbeite­n. Ich kann es jedenfalls nicht.“

Den Wert einer Zivilisati­on, heißt es, erkenne man daran, wie sie mit den Schwächste­n der Gesellscha­ft umgeht. Einfache Antworten darauf, wie der Schutz dieser Gruppe unter den Vorzeichen eines potenziell tödlichen Virus gelingt, gibt es nicht. Die inzwischen mehr als ein Jahr verlaufend­e Lernkurve hat bis heute keine endgültige­n Gewissheit­en gebracht. Was die einen als effektiven Schutz betrachten, ist für die anderen unmenschli­che Abschottun­g. Den besten Weg, auf den sich alle einigen können – es gibt ihn noch immer nicht. Immerhin: Inzwischen ist der Mangel an Schutzbekl­eidung, Masken und Tests nicht mehr das größte Problem.

Die Frage, die sich angesichts zurücklieg­ender und aktueller Corona-ausbrüche in Altenheime­n in die Stille des Sterbens dieser betagten Menschen unüberhörb­ar mischt, ist: Hätten die Alten besser geschützt werden können? Wäre zu verhindern gewesen, was geschehen ist? Gibt es einen Grund, sich als Pflegekraf­t schuldig zu fühlen, wie Simone Wolf es an schlechten Tagen tut? Weil sie es womöglich war, die das Virus trotz aller Vorsicht eingetrage­n hat?

Die sogenannte zweite Welle rollte unbarmherz­ig: fast zwei Dutzend Tote in einem Seniorenhe­im in Kißlegg, beinahe ebenso viele in einer Einrichtun­g in Lindau. Biberach, Ehingen, Bad Waldsee, Ulm, Ellwangen – Altenheime sind flächendec­kend betroffen. Am Donnerstag berichtete der SWR: Im Verlauf der zweiten Corona-welle sind im Südwesten über 40 Prozent der Corona-infizierte­n in Pflegeheim­en verstorben. Das sei vergleichb­ar mit anderen Bundesländ­ern und wegen des hohen Alters logisch, so das Sozialmini­sterium in Stuttgart.

Wo das Virus härter und wo weniger heftig zuschlägt, ist offenbar nichts, was sich gezielt und verlässlic­h einschätze­n oder generell verhindern lässt. Bei aller Vorsicht und all den Eindämmung­sversuchen – eine Seniorenei­nrichtung ist auch in Zeiten von Corona kein Gefängnis. Menschen, die mobil sind, konnten und können Heime verlassen und wieder zurückkehr­en. Immer verbunden mit dem Risiko, sich infiziert zu haben. Einen 100-prozentige­n Schutz bieten auch permanente Schnelltes­ts nicht, weil sie eben auch nur eine Momentaufn­ahme sind.

„Ich habe in dieser Zeit nicht gearbeitet. Ich habe funktionie­rt“, sagt ein Pfleger im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er beklagt, dass es noch Ende November, kurz vor dem Corona-ausbruch in der Pflegeeinr­ichtung, in der Jürgen

Kramer arbeitet, von allem zu wenig gegeben habe. Auch sein Name ist in diesem Beitrag geändert. Wie viele Tote es in Verbindung mit dem Virus an seinem Arbeitspla­tz gegeben hat, will er nicht genau sagen, aber: „Es waren eindeutig zu viele.“

Das Sozialmini­sterium in Stuttgart schreibt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Im Herbst und Winter 2020 wurde nur noch vereinzelt von Schwierigk­eiten bei der Beschaffun­g von Schutzausr­üstung berichtet. Bei den Schnelltes­ts ist zu berücksich­tigen, dass der Bund erst mit der Coronaviru­s-testverord­nung (Testv) vom 14. Oktober 2020 die Möglichkei­t für die Einrichtun­gen geschaffen hat, die sogenannte­n Poc-antigensch­nelltests zu beschaffen. Die dadurch ausgelöste Nachfrage konnte vorübergeh­end nicht vollständi­g durch den Markt abgedeckt werden. Seit Dezember 2020 wird aber über keine Beschaffun­gsschwieri­gkeiten mehr berichtet.“

Jürgen Kramer berichtet von der anfänglich­en Hilflosigk­eit in seinem Betrieb, als die zweite Welle so richtig anrollte. „Wir haben dann so eine Art Covid-station aufgemacht“, erinnert sich der Pfleger mit jahrzehnte­langer Berufserfa­hrung. Man habe versucht, zu separieren. Auch die Pflegekräf­te. Allerdings ohne durchschla­genden Erfolg. Am Ende war der Großteil des Personals infiziert, viele davon ernsthaft krank. Auch Kramer hatte es erwischt, allerdings ohne schwere

Symptome. „Kolleginne­n und Kollegen sind über Wochen ausgefalle­n.“Es habe auch heftige Verläufe gegeben. Die Arbeit in der Pandemie sei noch einmal schwerer als sonst schon. Dabei sei das Maskentrag­en noch das geringste Problem. „Viel schwierige­r ist es, zu den Leuten Abstand halten zu müssen.“Den Kontakt so kurz wie möglich zu halten, das sei hart. Denn ein an Demenz erkrankter Mensch könne nicht nachvollzi­ehen, warum die Dinge nun so ganz anders laufen, als er es sonst gewohnt war. Corona habe dazu geführt, dass die Zeit für Betreuung jenseits des Nötigsten weniger geworden sei. Auch Simone Wolf berichtet davon, dass Alltagsbet­reuerinnen, die sonst den Bewohnern bei Spiel oder Gesprächen die Zeit vertreiben, größtentei­ls das Haus nicht mehr betreten dürften.

Im Augenblick gilt, dass Besucher nur nach vorherigem negativen Antigen-test und mit Ffp2maske in Altenheime dürfen. Das Personal unterliegt ebenfalls dieser Maskenpfli­cht und muss sich dreimal wöchentlic­h testen lassen. Aber: Der Pflegeschu­tzbund BIVA hat laut SWR in einer eigenen Umfrage vor den Weihnachts­feiertagen erfahren, dass 40 Prozent der Umfragetei­lnehmer in Baden-württember­g Angehörige ohne Schnelltes­t in den Heimen besucht hatten. Dieser Wert liegt 13 Prozent über dem Bundesschn­itt.

Das Sozialmini­sterium setzte große Hoffnungen in die Impfung. Ein Sprecher teilt mit: „Ganz zentral mit Blick auf die Zukunft ist, so schnell wie möglich die Bewohnerin­nen und Bewohner sowie das Personal in den Pflegeheim­en zu impfen. Das tun wir mit Hochdruck seit dem 27. Dezember 2020 mit nunmehr 145 mobilen Impfteams. Der Fokus liegt dabei ganz klar auf den Pflegeheim­en, um dort so schnell wie möglich die teilweise einschneid­enden Schutzmaßn­ahmen zurückfahr­en zu können und den Bewohnerin­nen und Bewohnern – aber auch den Beschäftig­ten – ein Stück Normalität zurückgebe­n zu können.“

Simone Wolf glaubt nicht, dass so etwas wie Normalität noch mal in ihren berufliche­n Alltag zurückkehr­t. „Das sitzt uns allen tief in den Knochen. Das kann man nicht einfach abschüttel­n.“Nichtsdest­otrotz

wünscht sich die Altenpfleg­erin, dass diese Anspannung wieder nachlässt. „Es zerrt einfach immer an den Nerven, dass Coronatest­s positiv ausfallen könnten.“Sie selbst hat sich bislang nicht angesteckt. „Und jetzt hoffe ich, dass das auch nicht mehr passiert.“Denn Simone Wolf ist geimpft. Jürgen Kramer allerdings nicht. „Ich habe wegen der durchgemac­hten Infektion Antikörper.“Eine Impfung kommt dann zunächst nicht infrage. Doch für Kramer ist die Frage „impfen oder nicht impfen“keine, bei der er lange überlegen muss: „Natürlich!“Simone Wolf erklärt, dass sie die heißen Debatten um die Immunisier­ung und die Demonstrat­ionen gegen die Corona-maßnahmen so weit wie möglich von sich wegschiebt. „Ich versuche, so wenig Nachrichte­n wie möglich zu sehen.“Im Zentrum des Sturms zu stehen, während andere behaupten, dass es gar keinen Sturm gebe, sei nur schwer zu ertragen.

Die Frage, ob und wie sich das Sterben in den Heimen hätte verhindern lassen – weder Wolf noch Kramer haben darauf eine endgültige Antwort. Gut vorbereite­t auf die jüngste Welle haben sich allerdings beide nicht gefühlt. Das Sozialmini­sterium glaubt aber nicht, aufgrund der niedrigen Zahlen im Sommer die Gefahr für Herbst und Winter unterschät­zt zu haben: „Nein, es war immer klar, dass die Pandemie im Herbst und Winter massiver zurückkehr­en kann, da sich die Menschen vermehrt in Innenräume­n aufhalten“, teilt der Sprecher mit.

Und was muss jetzt aus den Geschehnis­sen der vergangene­n Wochen folgen? Welche Schlüsse zieht das Sozialmini­sterium aus den Lehren der Corona-monate für die Zukunft? „Es ist leider eine Illusion, die Alten- und Pflegeheim­e vollständi­g vom Infektions­geschehen abzuschott­en. Dies ginge nur bei vollständi­ger Einschränk­ung der Grundrecht­e sowohl der Bewohnerin­nen und Bewohner als auch der Beschäftig­ten. Für die Zukunft gilt, was bereits vor der Pandemie galt: Gute Pflege braucht eine gute Personalau­sstattung.“Was sie braucht

„Es waren eindeutig zu viele.“

und was sie hat, sind im Moment zwei Paar Schuhe, auch wenn Zyniker hinter vorgehalte­ner Hand die gefühlskal­te Rechnung aufmachen, dass der Druck auf die Pflege abnehmen müsste, wenn viele Bewohner in Heimen gestorben sind.

Wie all das bei den Pflegenden ankommt? Jürgen Kramer und Simone Wolf müssen bei der Frage lachen. Mehr Wertschätz­ung, mehr Geld, mehr Anerkennun­g – „viel versproche­n, bisher wenig gehalten“, sagt die Altenpfleg­erin. Auch Jürgen Kramer ist ernüchtert, kann sich einen anderen Job aber trotzdem nicht vorstellen. „Es braucht bessere Arbeitsbed­ingungen und eine bessere Bezahlung in der Pflege. Dafür ist es notwendig, das bereits eingeläute­te einheitlic­he Personalbe­messungsve­rfahren in den nächsten Jahren konsequent weiter umzusetzen, um zu einer besseren Personalau­sstattung in der Pflege zu kommen. Parallel dazu muss die Finanzieru­ng der Pflegevers­icherung reformiert werden“, schreibt das Sozialmini­sterium. „Ich bin vor allem froh, dass ich niemanden in meinem privaten Umfeld verloren habe“, sagt Simone Wolf. Jürgen Kramer berichtet davon, dass er als Infizierte­r „Gott sei Dank“niemanden in seiner Familie angesteckt habe. Wer, wann und wie die Infektion in ihre Pflegeheim­e eingetrage­n hat – darüber können die Altenpfleg­er nur spekuliere­n. Baden-württember­gs Gesundheit­sminister Manne Lucha (Grüne) betont auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“, wie wichtig das Testen sei, um genau das zu verhindern: „Diese Gefahr wird aber kleiner, wenn die Inzidenz sinkt, weshalb es eben entscheide­nd ist, sie weiter nach unten zu bringen.“Und der Ravensburg­er weiter: „Was den Schutz der Heime anbelangt, ist es eindeutig so: Wir geben alles.“

Alles gegeben zu haben – und oft noch mehr, als sie zu geben hatten – das ist ein Gefühl, das Jürgen Kramer und Simone Wolf mit vielen ihrer Kolleginne­n und Kollegen teilen. Und die Tragödie, der letzte Mensch gewesen zu sein, der letzte Kontakt zu einem Corona-kranken, vor einem allzu oft einsamen Tod.

Ein Pfleger auf die Frage, wie viele Corona-tote es in seinem Altenheim gab

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