Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das einsame Sterben
Die Corona-pandemie verändert die Arbeit der Pflegekräfte in Altenheimen – Vor allem wegen der hohen Todesrate der Bewohner
- Am stärksten hat sie der Spruch einer Freundin vor den Kopf gestoßen. Ganz beiläufig, vielleicht sogar als Trost gedacht, sagte die eines Tages: „Ganz neu ist das ja nicht, dass Leute im Altersheim sterben.“Simone Wolf glaubte zunächst, nicht richtig gehört zu haben. Nur weil sie als Altenpflegerin arbeitet und es gewohnt ist, dass ihre betagten Schützlinge diese irdische Welt eines Tages schließlich verlassen, erwartet man von ihr, sich nicht so anzustellen, wenn die Pandemie alte Menschen in den Heimen „nur so dahinrafft“, wie sie sagt? Simone Wolf, Mitte 30, die in Wahrheit anders heißt und überhaupt nur deshalb bereit ist, über ihre Arbeit in Zeiten der Seuche zu sprechen, wenn ausgeschlossen wird, dass man erkennen kann, wo genau sie ihren Dienst tut, sagt: „Eigentlich war und bin ich gar nicht mehr richtig in der Lage, diese Arbeit zu machen.“Jeder Tod, den man begleite, verändere einen selbst auch ein bisschen. „Aber was wir erlebt haben, kann man nicht mehr verarbeiten. Ich kann es jedenfalls nicht.“
Den Wert einer Zivilisation, heißt es, erkenne man daran, wie sie mit den Schwächsten der Gesellschaft umgeht. Einfache Antworten darauf, wie der Schutz dieser Gruppe unter den Vorzeichen eines potenziell tödlichen Virus gelingt, gibt es nicht. Die inzwischen mehr als ein Jahr verlaufende Lernkurve hat bis heute keine endgültigen Gewissheiten gebracht. Was die einen als effektiven Schutz betrachten, ist für die anderen unmenschliche Abschottung. Den besten Weg, auf den sich alle einigen können – es gibt ihn noch immer nicht. Immerhin: Inzwischen ist der Mangel an Schutzbekleidung, Masken und Tests nicht mehr das größte Problem.
Die Frage, die sich angesichts zurückliegender und aktueller Corona-ausbrüche in Altenheimen in die Stille des Sterbens dieser betagten Menschen unüberhörbar mischt, ist: Hätten die Alten besser geschützt werden können? Wäre zu verhindern gewesen, was geschehen ist? Gibt es einen Grund, sich als Pflegekraft schuldig zu fühlen, wie Simone Wolf es an schlechten Tagen tut? Weil sie es womöglich war, die das Virus trotz aller Vorsicht eingetragen hat?
Die sogenannte zweite Welle rollte unbarmherzig: fast zwei Dutzend Tote in einem Seniorenheim in Kißlegg, beinahe ebenso viele in einer Einrichtung in Lindau. Biberach, Ehingen, Bad Waldsee, Ulm, Ellwangen – Altenheime sind flächendeckend betroffen. Am Donnerstag berichtete der SWR: Im Verlauf der zweiten Corona-welle sind im Südwesten über 40 Prozent der Corona-infizierten in Pflegeheimen verstorben. Das sei vergleichbar mit anderen Bundesländern und wegen des hohen Alters logisch, so das Sozialministerium in Stuttgart.
Wo das Virus härter und wo weniger heftig zuschlägt, ist offenbar nichts, was sich gezielt und verlässlich einschätzen oder generell verhindern lässt. Bei aller Vorsicht und all den Eindämmungsversuchen – eine Senioreneinrichtung ist auch in Zeiten von Corona kein Gefängnis. Menschen, die mobil sind, konnten und können Heime verlassen und wieder zurückkehren. Immer verbunden mit dem Risiko, sich infiziert zu haben. Einen 100-prozentigen Schutz bieten auch permanente Schnelltests nicht, weil sie eben auch nur eine Momentaufnahme sind.
„Ich habe in dieser Zeit nicht gearbeitet. Ich habe funktioniert“, sagt ein Pfleger im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Er beklagt, dass es noch Ende November, kurz vor dem Corona-ausbruch in der Pflegeeinrichtung, in der Jürgen
Kramer arbeitet, von allem zu wenig gegeben habe. Auch sein Name ist in diesem Beitrag geändert. Wie viele Tote es in Verbindung mit dem Virus an seinem Arbeitsplatz gegeben hat, will er nicht genau sagen, aber: „Es waren eindeutig zu viele.“
Das Sozialministerium in Stuttgart schreibt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“: „Im Herbst und Winter 2020 wurde nur noch vereinzelt von Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Schutzausrüstung berichtet. Bei den Schnelltests ist zu berücksichtigen, dass der Bund erst mit der Coronavirus-testverordnung (Testv) vom 14. Oktober 2020 die Möglichkeit für die Einrichtungen geschaffen hat, die sogenannten Poc-antigenschnelltests zu beschaffen. Die dadurch ausgelöste Nachfrage konnte vorübergehend nicht vollständig durch den Markt abgedeckt werden. Seit Dezember 2020 wird aber über keine Beschaffungsschwierigkeiten mehr berichtet.“
Jürgen Kramer berichtet von der anfänglichen Hilflosigkeit in seinem Betrieb, als die zweite Welle so richtig anrollte. „Wir haben dann so eine Art Covid-station aufgemacht“, erinnert sich der Pfleger mit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Man habe versucht, zu separieren. Auch die Pflegekräfte. Allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Am Ende war der Großteil des Personals infiziert, viele davon ernsthaft krank. Auch Kramer hatte es erwischt, allerdings ohne schwere
Symptome. „Kolleginnen und Kollegen sind über Wochen ausgefallen.“Es habe auch heftige Verläufe gegeben. Die Arbeit in der Pandemie sei noch einmal schwerer als sonst schon. Dabei sei das Maskentragen noch das geringste Problem. „Viel schwieriger ist es, zu den Leuten Abstand halten zu müssen.“Den Kontakt so kurz wie möglich zu halten, das sei hart. Denn ein an Demenz erkrankter Mensch könne nicht nachvollziehen, warum die Dinge nun so ganz anders laufen, als er es sonst gewohnt war. Corona habe dazu geführt, dass die Zeit für Betreuung jenseits des Nötigsten weniger geworden sei. Auch Simone Wolf berichtet davon, dass Alltagsbetreuerinnen, die sonst den Bewohnern bei Spiel oder Gesprächen die Zeit vertreiben, größtenteils das Haus nicht mehr betreten dürften.
Im Augenblick gilt, dass Besucher nur nach vorherigem negativen Antigen-test und mit Ffp2maske in Altenheime dürfen. Das Personal unterliegt ebenfalls dieser Maskenpflicht und muss sich dreimal wöchentlich testen lassen. Aber: Der Pflegeschutzbund BIVA hat laut SWR in einer eigenen Umfrage vor den Weihnachtsfeiertagen erfahren, dass 40 Prozent der Umfrageteilnehmer in Baden-württemberg Angehörige ohne Schnelltest in den Heimen besucht hatten. Dieser Wert liegt 13 Prozent über dem Bundesschnitt.
Das Sozialministerium setzte große Hoffnungen in die Impfung. Ein Sprecher teilt mit: „Ganz zentral mit Blick auf die Zukunft ist, so schnell wie möglich die Bewohnerinnen und Bewohner sowie das Personal in den Pflegeheimen zu impfen. Das tun wir mit Hochdruck seit dem 27. Dezember 2020 mit nunmehr 145 mobilen Impfteams. Der Fokus liegt dabei ganz klar auf den Pflegeheimen, um dort so schnell wie möglich die teilweise einschneidenden Schutzmaßnahmen zurückfahren zu können und den Bewohnerinnen und Bewohnern – aber auch den Beschäftigten – ein Stück Normalität zurückgeben zu können.“
Simone Wolf glaubt nicht, dass so etwas wie Normalität noch mal in ihren beruflichen Alltag zurückkehrt. „Das sitzt uns allen tief in den Knochen. Das kann man nicht einfach abschütteln.“Nichtsdestotrotz
wünscht sich die Altenpflegerin, dass diese Anspannung wieder nachlässt. „Es zerrt einfach immer an den Nerven, dass Coronatests positiv ausfallen könnten.“Sie selbst hat sich bislang nicht angesteckt. „Und jetzt hoffe ich, dass das auch nicht mehr passiert.“Denn Simone Wolf ist geimpft. Jürgen Kramer allerdings nicht. „Ich habe wegen der durchgemachten Infektion Antikörper.“Eine Impfung kommt dann zunächst nicht infrage. Doch für Kramer ist die Frage „impfen oder nicht impfen“keine, bei der er lange überlegen muss: „Natürlich!“Simone Wolf erklärt, dass sie die heißen Debatten um die Immunisierung und die Demonstrationen gegen die Corona-maßnahmen so weit wie möglich von sich wegschiebt. „Ich versuche, so wenig Nachrichten wie möglich zu sehen.“Im Zentrum des Sturms zu stehen, während andere behaupten, dass es gar keinen Sturm gebe, sei nur schwer zu ertragen.
Die Frage, ob und wie sich das Sterben in den Heimen hätte verhindern lassen – weder Wolf noch Kramer haben darauf eine endgültige Antwort. Gut vorbereitet auf die jüngste Welle haben sich allerdings beide nicht gefühlt. Das Sozialministerium glaubt aber nicht, aufgrund der niedrigen Zahlen im Sommer die Gefahr für Herbst und Winter unterschätzt zu haben: „Nein, es war immer klar, dass die Pandemie im Herbst und Winter massiver zurückkehren kann, da sich die Menschen vermehrt in Innenräumen aufhalten“, teilt der Sprecher mit.
Und was muss jetzt aus den Geschehnissen der vergangenen Wochen folgen? Welche Schlüsse zieht das Sozialministerium aus den Lehren der Corona-monate für die Zukunft? „Es ist leider eine Illusion, die Alten- und Pflegeheime vollständig vom Infektionsgeschehen abzuschotten. Dies ginge nur bei vollständiger Einschränkung der Grundrechte sowohl der Bewohnerinnen und Bewohner als auch der Beschäftigten. Für die Zukunft gilt, was bereits vor der Pandemie galt: Gute Pflege braucht eine gute Personalausstattung.“Was sie braucht
„Es waren eindeutig zu viele.“
und was sie hat, sind im Moment zwei Paar Schuhe, auch wenn Zyniker hinter vorgehaltener Hand die gefühlskalte Rechnung aufmachen, dass der Druck auf die Pflege abnehmen müsste, wenn viele Bewohner in Heimen gestorben sind.
Wie all das bei den Pflegenden ankommt? Jürgen Kramer und Simone Wolf müssen bei der Frage lachen. Mehr Wertschätzung, mehr Geld, mehr Anerkennung – „viel versprochen, bisher wenig gehalten“, sagt die Altenpflegerin. Auch Jürgen Kramer ist ernüchtert, kann sich einen anderen Job aber trotzdem nicht vorstellen. „Es braucht bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung in der Pflege. Dafür ist es notwendig, das bereits eingeläutete einheitliche Personalbemessungsverfahren in den nächsten Jahren konsequent weiter umzusetzen, um zu einer besseren Personalausstattung in der Pflege zu kommen. Parallel dazu muss die Finanzierung der Pflegeversicherung reformiert werden“, schreibt das Sozialministerium. „Ich bin vor allem froh, dass ich niemanden in meinem privaten Umfeld verloren habe“, sagt Simone Wolf. Jürgen Kramer berichtet davon, dass er als Infizierter „Gott sei Dank“niemanden in seiner Familie angesteckt habe. Wer, wann und wie die Infektion in ihre Pflegeheime eingetragen hat – darüber können die Altenpfleger nur spekulieren. Baden-württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) betont auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“, wie wichtig das Testen sei, um genau das zu verhindern: „Diese Gefahr wird aber kleiner, wenn die Inzidenz sinkt, weshalb es eben entscheidend ist, sie weiter nach unten zu bringen.“Und der Ravensburger weiter: „Was den Schutz der Heime anbelangt, ist es eindeutig so: Wir geben alles.“
Alles gegeben zu haben – und oft noch mehr, als sie zu geben hatten – das ist ein Gefühl, das Jürgen Kramer und Simone Wolf mit vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen teilen. Und die Tragödie, der letzte Mensch gewesen zu sein, der letzte Kontakt zu einem Corona-kranken, vor einem allzu oft einsamen Tod.
Ein Pfleger auf die Frage, wie viele Corona-tote es in seinem Altenheim gab