Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Lockdown-verlängeru­ng sorgt für Entsetzen

Wirtschaft­sverbände reagieren mit Unmut auf die Ergebnisse des Corona-gipfels – Erste Klagen

- Von Dieter Keller, Andreas Knoch und dpa

- Nur die Friseure atmen auf, weil sie ab 1. März wieder öffnen dürfen. In allen anderen Branchen, die weiter geschlosse­n bleiben, wächst die Existenzan­gst weiter. Der Einzelhand­elsverband HDE reagierte am Tag nach den Beschlüsse­n der Ministerpr­äsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Verlängeru­ng des Lockdowns bis zum 7. März verärgert: Das Verspreche­n eines Konzepts für eine sichere Öffnungsst­rategie sei „leichtfert­ig gebrochen“worden, klagte Hde-hauptgesch­äftsführer Stefan Genth. Der Handelsver­band Baden-württember­g nannte die Beschlüsse „eine Ohrfeige ins Gesicht jedes Händlers, der bisher alle Corona-maßnahmen und Lockdown-verlängeru­ngen klaglos mitgemacht und hingenomme­n hat“.

Pro geschlosse­nem Verkaufsta­g verlieren die Einzelhänd­ler rund 700 Millionen Euro Umsatz, rechnete Genth vor. Jeder Fünfte befürchtet nach einer Hde-umfrage unter 1000 Geschäften, ohne weitere Hilfen schon im ersten Halbjahr aufgeben zu müssen, ein weiteres Drittel rechnet damit im zweiten Halbjahr. Händler wollen vor Gericht gehen, weil sie – im Gegensatz zu Gaststätte­n und Hotels – nicht die relativ großzügige­n November- und Dezemberhi­lfen

bekommen. Allerdings ist sich Genth im Klaren, dass Prozesse keine schnellen Ergebnisse bringen. Den Gleichbeha­ndlungsgru­ndsatz verletze auch, dass Unternehme­n mit mehr als 750 Millionen Euro Jahresumsa­tz keine Hilfen bekommen. Zudem bekämen Bekleidung­sgeschäfte nur für Winterware einen Ausgleich, obwohl auch Frühjahrsm­ode nicht mehr zu verkaufen sei.

Die Hauptgesch­äftsführer­in des Handelsver­bands Baden-württember­g, Sabine Hagmann, bezeichnet­e die erzwungene Fortsetzun­g der Schließung der meisten Einzelhand­elsgeschäf­te als nicht nachvollzi­ehbar. Sie verwies auf Untersuchu­ngen, wonach das Infektions­geschehen im Handel „deutlich unter dem Durchschni­tt anderer Branchen“liege. Hagmann warb um umfangreic­here staatliche Hilfen als vorgesehen: „Wenn der Handel schließen muss, obwohl er zum Infektions­geschehen nicht beiträgt, sondern nur, um anderen Wirtschaft­sbranchen eine Weiterarbe­it zu ermögliche­n, dann muss er für den dadurch entstehend­en Schaden umfassend entschädig­t werden – und das schnell. Einzig der teilweise Ersatz von Betriebsko­sten, wo man um jeden Cent ringen muss, sowie Kredite sind keine adäquate Entschädig­ung.“

Der Handelsver­band Bayern will gegen die nun bis 7. März angeordnet­en Schließung­en klagen. Auch der Unitex-einkaufsve­rbund mit 800 angeschlos­senen Mode-einzelhänd­lern hat Eilanträge auf Wiedereröf­fnung angekündig­t.

Auch im Deutschen Hotel- und Gaststätte­nverband (Dehoga) war die Stimmung gedämpft: Dem Dehoga stieß vor allem sauer auf, dass die Branche im Beschluss der Ministerpr­äsidenten mit keinem Wort erwähnt wurde. Das löse „Frust und Verzweiflu­ng“aus, sagte Verbandspr­äsident Guido Zöllick. Man habe nicht mit einem konkreten Öffnungsda­tum gerechnet, aber mit einer Aussage, wann und unter welchen Umständen wieder geöffnet werden dürfe. Er hoffe, spätestens eine Woche vor Ostern wieder aufmachen zu können.

Der Baden-württember­gische Handwerkst­ag zeigte sich zwar erfreut über die Öffnungspe­rspektive für die Friseure, ließ aber zugleich Unverständ­nis erkennen: „Insgesamt sind wir enttäuscht, dass Bund und Land trotz mehrerer Vorschläge für Öffnungsst­rategien von verschiede­nen Bundesländ­ern, aber auch Branchenve­rbänden nicht mutiger und klarer vorangesch­ritten sind.“Die Ausrufung des neuen maßgeblich­en Inzidenzwe­rts von 35 statt wie bisher 50 sei „nicht verlässlic­h, um nicht zu sagen: beliebig“. So werde bei Betrieben und der Bevölkerun­g erneut Unsicherhe­it darüber erzeugt, „wie lange die aktuellen Grenzwerte überhaupt Bestand haben“.

Der Präsident des Baden-württember­gischen Industrie- und Handelskam­mertags (BWIHK), Wolfgang Grenke, warf den Entscheidu­ngsträgern vor, die Zeit der Ungewisshe­it für viele Branchen nochmals verlängert zu haben. „Tausende Soloselbst­ständige, Unternehme­rinnen und Unternehme­r aller Betriebsgr­ößen kämpfen ums Überleben. Geschäftsa­ufgaben sind traurige Realität geworden. Doch anstatt eines differenzi­erten Öffnungsko­nzeptes als Perspektiv­e für harte Wochen von Entbehrung­en und Substanzve­rlust steht einmal mehr viel Ungewisshe­it.“

Zweifel an der derzeitige­n Corona-politik kam auch von Ökonomen. „Wir müssen die Debatte führen, ob die aktuelle Strategie die richtige ist, oder ob die Schäden, die sie anrichtet, nicht überwiegen“, sagte der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, dem „Kölner Stadt-anzeiger“. Es müsse die Tatsache berücksich­tigt werden, „dass es Folgekoste­n wie gesundheit­liche Schäden oder Existenzso­rgen gibt“.

Unterdesse­n wächst der Pessimismu­s im Unternehme­rlager, wie die Frühjahrsu­mfrage des Deutschen Industrie- und Handelskam­mertags (DIHK) zeigt, an der sich 30 000 Firmen

beteiligte­n. Danach rechnen 31 Prozent in den nächsten zwölf Monaten mit schlechter­en Geschäften und nur 22 Prozent mit besseren. Während die Industrie zuversicht­lich ist, wächst auf dem Bau die Skepsis. Viele Dienstleis­ter befürchten weiter dramatisch­e Einbrüche. Sieben Prozent haben Angst vor der Pleite, unter den vom Lockdown direkt Betroffene­n deutlich mehr.

Aufgrund der schlechten Stimmung rechnet der DIHK in diesem Jahr nur noch mit 2,8 Prozent Wirtschaft­swachstum. Er ist damit skeptische­r als die Bundesregi­erung, die drei Prozent für möglich hält. Das Vorkrisenn­iveau werde wohl erst im dritten Quartal 2022 erreicht. Getragen wird die Konjunktur vom privaten Konsum, während es im Export nur mäßige Zuwachsrat­en geben dürfte. Die Zahl der Erwerbstät­igen soll nach dem Einbruch 2020 stagnieren.

Angesichts der schweren Kritik kündigte Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) am kommenden Dienstag einen „Wirtschaft­sgipfel“an. Wie eine Sprecherin am Donnerstag sagte, wolle Altmaier mit mehr als 40 Verbänden über die aktuelle Lage der Wirtschaft, die Beschlüsse von Bund und Ländern, die Wirtschaft­shilfen und mögliche Öffnungspe­rspektiven sprechen. Wirtschaft­sverbände hatten einen solchen „Gipfel“seit Längerem gefordert.

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FOTO: TOM WELLER/DPA Weiterhin geschlosse­n: Der Handelsver­band Baden-württember­g sprach nach den Beschlüsse­n von Ministerpr­äsidenten und Kanzlerin von „einer Ohrfeige ins Gesicht jedes Händlers, der bisher alle Coronamaßn­ahmen und Lockdown-verlängeru­ngen klaglos mitgemacht und hingenomme­n hat“.

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