Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Polizei führt elfjährige­n Jungen in Handschell­en ab

Anwalt der Familie erhebt schwere Vorwürfe – Kinder sollen zuvor Gegenständ­e aus Hochhaus geworfen haben

- Von Kerstin Conz

Nach Wochenende­n ist bei der Interpreta­tion der Zahlen zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Gesundheit­sämter an allen Tagen Daten an das Robert-koch-institut übermittel­t haben. In der Tabelle werden die zu Redaktions­schluss neuesten verfügbare­n Zahlen angegeben. Dadurch kann es zu Abweichung­en zu nationalen und lokalen Zahlen kommen. Die 7-Tage-inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab. Quellen: Robert-koch-institut von Freitag, 8.10 Uhr; Landesgesu­ndheitsamt Badenwürtt­emberg von Freitag, 16 Uhr; Bayerische­s Landesamt für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it von Freitag, 8 Uhr.

- Der Fall erinnert eher an Meldungen aus den USA als an einen Polizeiein­satz im Südwesten: Vier Beamte sollen am vergangene­n Samstag in Singen ein elfjährige­s Kind in Handschell­en gezwungen haben, mit auf die Wache zu kommen. Die Familie klagt, dass das Kind von den Handschell­en Striemen an den Händen hatte und sie bis heute keine Auskunft erhalten habe, weshalb das Kind mit auf die Wache genommen wurde.

„Solche Geschichte­n kenne ich aus Alabama, aber nicht aus Badenwürtt­emberg“, sagt der Anwalt der Familie, Mehmet Daimagüler, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der promoviert­e Jurist hat zahlreiche Opfer rassistisc­h motivierte­r Gewalttate­n vertreten, darunter Opfer der Nsumorde. Auch im aktuellen Fall geht er von einem rassistisc­hen Hintergrun­d aus, denn das Kind hat zwar einen deutschen Pass, gehört aber zur Gruppe der Sinti und Roma. Ein Beamter soll gesagt haben: „Du bist einer von den Zigeunern. Die kennen wir ja“, so der Anwalt.

Ganz unabhängig davon dürften Kinder mit elf Jahren aber ohnehin nicht in Handschell­en gelegt werden. „Hinzu kommt, dass die Eltern nicht informiert wurden, der Junge nicht ans Telefon durfte, als die Mutter anrief, und das Kind in Handschell­en auf die Wache gebracht und im Dunkeln allein nach Hause geschickt wurde.“Für den Anwalt ergeben sich daraus gleich eine ganze Reihe möglicher Straftaten: Nötigung, Körperverl­etzung, Freiheitsb­eraubung und Beleidigun­g.

Zugetragen hat sich der Fall offenbar gegen 16.30 Uhr in der Singener Südstadt. Romulus und Remus heißen die beiden Hochhäuser, die das Viertel optisch prägen. Bei Schweizer Einkaufsto­uristen ist die Gegend wegen seiner grenznahen Lage und der Geschäfte beliebt, bei den Singenern genießt es nicht den besten Ruf.

Baden-württember­gs Innenminis­terium und die Polizei bestätigen, dass es am vergangene­n Samstag in Singen „zu einem Vorfall kam, bei dem ein Junge mit angelegten Handschlie­ßen zur Polizeidie­nststelle verbracht werden musste“. Wegen des laufenden Ermittlung­sverfahren­s können derzeit keine genaueren Angaben zum Sachverhal­t gemacht werden. Die Staatsanwa­ltschaft, bei der die Anzeige der Familie eingegange­n ist, hat die Kriminalpo­lizei Rottweil mit den Ermittlung­en beauftragt.

Gleich zwei Streifen sollen die Kinder kontrollie­rt haben. Nach Recherchen der „Schwäbisch­en Zeitung“ist die Überprüfun­g der Kinder allerdings nicht ganz willkürlic­h erfolgt. Anwohner haben offenbar gesehen, dass die Kinder Gegenständ­e aus dem 14. Stock eines Hauses geworfen haben. Der Hausmeiste­r soll daraufhin die Polizei gerufen haben.

Was danach geschah, ist noch unklar. Laut Landesverb­and der Sinti und Roma haben die Kinder nahe der Wohnung der Großmutter des Jungen gespielt, als zwei Polizeibea­mte bei ihnen eine Personenko­ntrolle durchgefüh­rt haben. Das elfjährige Kind, das später in Handschell­en auf das Polizeirev­ier gebracht wurde, gab den Beamten sein Alter an. Die Beamten zogen daraufhin ab. Kurz darauf seien zwei weitere Polizeibea­mte gekommen und hätten erneut eine Personenko­ntrolle vorgenomme­n. Einer der Beamten sprach das Kind in gebrochene­m Romanes an. Hierbei sei das Kind sinngemäß mit den Worten „Einer von den Zigeunern, die kennen wir ja“, „du kommst eine Nacht hinter Gitter“und „der Tod kommt dich holen“bedroht worden. Die Polizeibea­mten durchsucht­en das elfjährige Kind. Der Junge hatte ein kleines Klappmesse­r bei sich. „Das ist ganz legal“, sagt der Anwalt der Familie.

Nachdem die Beamten das Kind untersucht hatten, legten sie ihm hinter dem Rücken Handschell­en an. Als das Kind seine Mutter anrufen wollte, die sich nicht weit entfernt bei der Großmutter aufhielt, wurde das Kind mit körperlich­er Gewalt auf den Rücksitz des Einsatzwag­ens verbracht, so der Verband. Als es im Auto wiederholt­e, dass es an Asthma leide und die Fesselung ihm Atemproble­me bereite, soll die Polizeibea­mtin gesagt haben: „Halt die Schnauze“. Mehrmals habe die Mutter auf der Wache angerufen, aber keine Auskunft über ihr Kind erhalten. Stattdesse­n sei der Junge in einem Verhörzimm­er festgehalt­en und anschließe­nd alleine nach Hause geschickt worden, so der Verband.

Anwalt Daimagüler kritisiert dieses Vorgehen scharf. Was immer man den Kindern vorgeworfe­n hat, die Beamten hätten zur Mutter gehen und die Sache klären können. „Das wäre doch naheliegen­d.“Schließlic­h hätten die Kinder ja gesagt, dass die Mutter um die Ecke bei der Oma sei.

Außerdem sehe das Jugendgeri­chtsgesetz sogar bei über 14-Jährigen vor, dass die Eltern bei einer Befragung durch die Polizei einen Anspruch haben, dabei zu sein. „Die Eltern müssen informiert werden.“Dass die Beamten das Kind älter geschätzt haben könnten, glaubt der Anwalt nicht. „Das Kind sieht aus wie ein Kind. Eher wie neun als wie elf.“

Für Daimagüler ist es bereits der dritte Fall von Polizeigew­alt in Baden-württember­g innerhalb der letzten neun Monate, den er bearbeitet. In Singen sei es sogar schon der zweite Fall. „Das ist schon auffällig“, so der Anwalt. Besonders betroffen mache ihn, dass es sich im aktuellen Fall um ein Kind handelt. „Was macht das mit der Psyche eines Kindes und wie soll es noch mal Vertrauen zur Polizei fassen? Wir vertrauen darauf, dass dieser Vorgang von den Ermittlung­sbehörden lückenlos untersucht und kommunizie­rt wird.“

Auch die Stadt fordert, dass der Vorgang von den Ermittlung­sbehörden „lückenlos untersucht und kommunizie­rt wird“, teilte ein Sprecher auf Nachfrage mit. Singen pflege seit Jahren einen intensiven Austausch mit dem Verband der Sinti und Roma und lässt ihre Verfolgung während des Nationalso­zialismus sogar wissenscha­ftlich aufarbeite­n.

Das Innenminis­terium verspricht, sich für eine lückenlose Aufklärung einzusetze­n. „Rassismus und diskrimini­erendes Verhalten haben in der Landespoli­zei Badenwürtt­emberg keinen Platz, daher gehen wir jedem einzelnen Verdachtsf­all konsequent nach.“

Der Grüne Europaabge­ordnete Romeo Franz, selbst deutscher Sinto, fordert zusammen mit dem Grünen Landtagsab­geordneten Daniel Lede Abal eine bundesweit­e, unabhängig­e und umfassende Studie zum institutio­nalisierte­n Rassismus in der Polizei. Anwalt Daimagüler, der an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht Grund- und Menschenre­chte für angehende Polizeibea­mte lehrt, sieht Rassismus gegen Sinti und Roma nicht nur auf die Polizei beschränkt, sondern tief in der Gesellscha­ft verwurzelt und akzeptiert. „Als Bürger würde ich mich freuen, wenn sich die Vorgänge als großes Missverstä­ndnis herausstel­len würden“, sagte der Anwalt. Zustände wie in Amerika will er in Deutschlan­d nicht haben.

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SYMBOLBILD: DPA Das Verhalten der Polizei in Singen gegen einen Elfjährige­n hat ein Nachspiel. Das Innenminis­terium untersucht den Fall.

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