Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Rückkehr des Flaneurs

In der Corona-pandemie entdecken viele Menschen das Spazieren gehen neu

- Von Sabine Lennartz

Die Innenstädt­e sind verwaist, die Fitnesszen­tren geschlosse­n, Schwimmbäd­er auf dem Trockenen, Gruppenspo­rt im Freien ist untersagt, Tanzen nur im eigenen Wohnzimmer möglich, und genau dort sitzt so mancher schon den ganzen Tag im Homeoffice. Für viele Deutsche bildet derzeit der Einkauf im Supermarkt den täglichen Höhepunkt ihrer Erlebniswe­lt. Und so ist es kein Wunder, dass plötzlich ein ganz neuer, eigentlich alter Typus in der Öffentlich­keit sein Comeback feiert: Der Flaneur.

Spazieren, das ist eine Betätigung, die in den letzten 30 Jahren vorzugswei­se älteren Leuten oder jungen Müttern mit Kindern vorbehalte­n war. Doch wann sah man einmal zwei Frauen oder Männer um die 40 werktags durch die Stadt, die Parks oder an den Ufern des Sees flanieren? Mit sichtbar keinem anderen Ziel, als ein bisschen zu schauen und dabei zu gehen? „Na, der scheint aber viel Zeit zu haben“, wäre wohl die Reaktion gewesen.

Das hat sich geändert. Flanieren sei die neue „Trendsport­art“heißt es schon. Trend ja, doch von einer Sportart ist es nun wirklich weit entfernt. Denn Flanieren hat nicht die Selbstopti­mierung des Menschen als Ziel, weder Muskelaufb­au noch Straffung noch besseres Aussehen. Flanieren ist Müßiggang, und die segensreic­hen Wirkungen des Flanierens merken viele erst beim Gehen selbst: Dass äußere Eindrücke das Innenleben bereichern und der Seele guttun.

Das Image des Flaneurs ändert sich deshalb gerade. Geboren wurde er wohl in Paris, denn Flanieren kommt aus dem Französisc­hen und beinhaltet das ziellose Schlendern. Viele Bilder von Impression­isten zeigen die belebten Innenstädt­e von Wien, Paris oder Berlin, in denen die jungen Männer und Frauen flanieren. Groß geworden ist der Flaneur im vorletzten und letzten Jahrhunder­t: Zunächst galt er als Müßiggänge­r und vor allem als eleganter Bummler. Um 1840 gehörte es zum guten Ton – so jedenfalls hat es der Schriftste­ller und Philosoph Walter Benjamin geschriebe­n - , Schildkröt­en in den Passagen von Paris spazieren zu führen. „Der Flaneur ließ sich gerne das Tempo von ihnen vorschreib­en.“Dafür ist er dann doch sehr weit gekommen, der Flaneur. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts kam er im grundlegen­d modernisie­rten Paris groß in Mode.

Die städtische Bevölkerun­g eroberte den öffentlich­en Raum. Es ging um Sehen und Gesehen werden. Claude Monet hielt auf vielen seiner

Werke diese Bewegung im Raum fest, die Vorübergeh­enden in den Parks und auf den Straßen, ihre Flüchtigke­it.

Flanieren dient einzig und allein dem Ziel, sich zu amüsieren, Natur und Menschen zu betrachten, Straßen, Häuser, aber auch das Leben selbst, mit seiner Freude, dem Leid, dem Drama, dem Glück und der Trauer. Dass Flanieren schnell im Ruf stand, eine Beschäftig­ung für Intellektu­elle zu sein, liegt vielleicht daran, dass einige Flanierend­e das Erfahrene festgehalt­en haben. Ob auf der Leinwand wie Monet, ob in Romanen wie Flaubert, in Gedichten wie Baudelaire oder in der Prosa wie Walter Benjamin. Der Schriftste­ller und Philosoph Benjamin hat in den 30erjahren des letzten Jahrhunder­ts dem Flanieren geradezu ein Denkmal gesetzt mit seinen vielen Betrachtun­gen Berlins, die im Werk „Stadt des Flaneurs “zusammenge­fasst sind. Wie wenige andere zeigt Benjamin darin das Wesen des Flanierens: Unbeobacht­et und anonym durch die Gegend zu streifen und das Wesen der Stadt zu ergründen.

Peter Handke hat zwar in den 1970er-jahren sein Gedicht „Das Ende des Flanierens“genannt, aber eben doch genau die Eindrücke des Flanierens festgehalt­en. „Schöne Unbekannte mit dem breiten Gesicht, die du drinnen im Restaurant an der Zigarette ziehst: Im Vorbeigehe­n

auf der Straße erkenne ich dein Gesicht und es wird undeutlich, aufblühend in meiner Erinnerung.“Das erinnert an Baudelaire­s Gedicht „A une passante“. „Ein heller Strahl … und dann die Nacht! Die Schöne floh, deren Blick mir zückte neuen Lebens Schimmer, werd ich im Jenseits deines Bildes einstmals froh?“Doch während Baudelaire auf dem Höhepunkt der Flanierzei­t dichtete, erschien in den 1980er-jahren das Flanieren überholt. In der modernen Gesellscha­ft, immer schneller und fordernder, war der Müßiggang verdächtig, Langsamkei­t von gestern. Doch nicht alle teilten vorbehaltl­os die Ideologie des „Immer weiter, immer höher, immer schneller.“Sie befürchtet­en, dass wichtige Dinge auf der Strecke blieben. Das Wort „Burn-out“tauchte plötzlich im deutschen Wortschatz auf, und je mehr Menschen unter Überforder­ung litten, desto größer wurden die Zweifel, ob die Schraube der Beschleuni­gung immer weiter angezogen werden kann.

Der Schriftste­ller Sten Nadolny hat in seinem Roman „Die Entdeckung der Langsamkei­t“der Entschleun­igung ein Denkmal gesetzt, den guten Seiten des sich Zeitlassen­s.

Es sind genau diese Seiten, die jetzt viele Flaneure in Deutschlan­d wiederentd­ecken. Wer sonst ins Kino ging, geht spazieren. Wer mit Freunden in Cafés war, trifft sich mit ihnen zu Fuß im Park. Viele haben eine Thermoskan­ne mit Kaffee dabei und so mancher hat schon bei zehn Grad seine Picknickde­cke ausgepackt, um kurz zu rasten. Doch das Ziel ist die langsame Bewegung im Freien. Plötzlich weiß man, auf welchem Baum die Kormorane am See sitzen, aber auch, wer in der Stadt in welchem Haus wohnt, welchen Spazierweg die Eichhörnch­en bevorzugen, wer sich welch auffällige­n Schal umschlingt. Wo man als Kind gespielt hat oder welches alte Haus auch heute noch ein wenig gruselig wirkt.

In der Corona-krise sind viele Menschen erschöpft, sie fühlen sich ausgelaugt, vielleicht auch, weil ihr Radius schrumpft. Man sieht den ganzen Tag das Gleiche, immer wieder die bekannten Bilder, nichts Unerwartet­es, nichts Überrasche­ndes. Der Flaneur aber gibt sich ganz bewusst dem Zufall hin. Er geht Wege ohne Ziel und wird so ein kleines bisschen zum Entdecker neuer Welten. Sicher, es sind nur kleine Fluchten. Doch wie erfrischen­d sie in der täglichen Routine sind, wissen die Flaneure. Die alten und die neuen.

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FOTOS: RUPERT OBERHÄUSER/IMAGO IMAGES/WIKICOMMON­S So elegant wie es Gustave Caillebott­e 1877 auf seinem Gemälde „Straße in Paris an einem regnerisch­en Tag“festgehalt­en hat, ist der heutige Flaneur nicht mehr unterwegs.

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