Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Suche nach dem Weg zurück ins Leben
Ravensburger Traumatherapeutin Anni Heine begleitet Opfer von Vergewaltigungen
- Es gibt Momente im Leben, die alles verändern und einen Menschen bis ins Mark erschüttern. Wie etwa in dem Fall eines 14-Jährigen, der im April 2020 eine 18Jährige im Uferpark vergewaltigte (die SZ berichtete). Der junge Mann wurde dafür mittlerweile vor dem Ravensburger Landgericht verurteilt und sitzt hinter Gittern eines Jugendgefängnisses. Doch wie finden Vergewaltigungsopfer, wie in diesem Fall die 18-Jährige, wieder zurück in einen normalen Alltag nach solch einem traumatischen Erlebnis? Darüber hat Silja Meyer-zurwelle mit der Ravensburger Traumatherapeutin Anni Heine gesprochen.
Frau Heine, was genau ist eigentlich ein Trauma?
Zunächst und auf einen ganz kleinen Nenner gebracht ist ein Trauma ein Ereignis, das geeignet ist, jeden von uns – unabhängig von bisherigen Vorbelastungen – nachhaltig zu beeinträchtigen. Der Begriff „Trauma“leitet sich vom Griechischen ab und bedeutet „Wunde“oder „Verletzung“. Trauma beschreibt einen Zustand von intensiver Angst und Hilflosigkeit – oder das Entsetzen während und nach einem besonders bedrohlichen Ereignis. Das kann eine finale Krankheitsdiagnose sein, ein schlimmer Unfall, ein Kriegserlebnis, der Suizid eines Familienmitglieds oder körperliches und seelisches Erleben von Gewalt. Betroffene müssen noch nicht einmal selbst direktes Ziel einer Gewalttat sein. Es kann ausreichen, als Augenzeuge das Geschehen mitzuerleben. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass Menschen sehr unterschiedlich in ihrer Wahrnehmung und Wertung dessen sind, was sie erleben, ist die Traumatherapie eine sehr individuelle Angelegenheit.
Wie würden Sie Ihren Ansatz in der Therapie beschreiben?
Es gibt diejenigen Menschen, die sich dem Erlebten zuwenden wollen. Sie wollen sich aktiv damit auseinandernen setzen. Und es gibt diejenigen, die sozusagen „nichts wie weg“wollen. Kein Gedanke mehr zurück, abhaken, nach vorne. Beides hat seine Berechtigung. Ich begleite seit mittlerweile rund 20 Jahren Menschen nach Extremsituationen und habe in dieser Zeit mehr Sitzungen Traumatherapie absolvieren dürfen als mein Leben bis heute an Tagen zählt. Meiner Erfahrung nach ist jeder Patient Experte für das, was sich in ihm abspielt. Daher sehe ich meine Rolle als Begleiterin, die im Außen Halt gibt, das passende Know-how zur Verfügung stellt und Betroffene dann auf ihrem individuellen Weg aus dem Trauma heraus therapeutisch begleitet. Dabei nutze ich verschiedene Mittel, wie beispielsweise die Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung. Entwickelt hat das Dr. Francine Shapiro aus den USA als Therapieform zur Behandlung von Traumafolgestörungen. Der Vorteil dieser Methode ist, dass wir damit eine erste Entlastung erreichen können, ohne dass Betroffene über Erlebtes sprechen müssen. Das ist insbesondere dann relevant, wenn eine Anzeige bei der Polizei läuft und möglicherweise eine Gerichtsverhandlung ansteht. Betroffene sind in diesem Fall Zeugen. Ich darf also stabilisieren, sollte aber nicht in eiDialog über Erlebnisinhalte gehen. Zur nachhaltigen Stabilisierung nutze ich gleichzeitig eine weitere therapeutische Intervention, die ich im Laufe der Jahre unbeabsichtigt selbst entwickelt und im Dezember 2019 veröffentlicht habe: die Fallschirm-methode. Sie ermöglicht mir, Menschen da aufzufangen, wo ihr Gefühlsleben sie überwältigt. Bildhaft gesprochen: Wann immer gerade ein Gewitter im Inneren stattfindet. Es blitzt, es donnert, es schüttet aus Kübeln, alles ist zu heftig und zu viel. Auch hier gibt es Tools, die ermöglichen, aus dem Gewitter heraus wieder in ruhigere, innere Gefilde zu finden, selbst wenn wir auf Dialog über Erlebnisinhalte verzichten müssen.
Beobachten Sie klassische Denkmuster, in die Opfer von Vergewaltigung verfallen?
Traumatisches Erleben ist im Nachhinein vor allem gekennzeichnet durch Ohnmacht und Hilflosigkeit. Insofern betrachte ich alle Gedanken als klassisch, die Betroffene sich in diesem Zusammenhang machen. Gedanken wie beispielsweise: Schaffe ich das? Wird das je wieder besser? Kann ich mich je wieder freuen? Werde ich je wieder eine normale Beziehung führen können?
Wie groß sind die Chancen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden?
Die Beantwortung dieser Frage ist so individuell und weitreichend, dass ich ein Buch schreiben könnte.wählen wir ein bildhaftes Beispiel: Stellen Sie sich vor, in Ihrem Wohnzimmer ist eine Bombe geplatzt – das Trauma. Sie – bildlich gesprochen für den Wesenskern in jedem von uns – waren im Save-room. Es gibt Sie noch, auch wenn Ihr innerer Wohnbereich verwüstet wurde. Es braucht Zeit, aber Sie können den inneren Raum wieder in Ordnung bringen. Der Wesenskern eines Menschen ist immer im „Save-room“, auch wenn der Mensch bis ins Mark durch das Geschehen erschüttert wurde. In der Therapie schaffen wir eine fühlbare Rückverbindung mit diesem inneren Wesenskern und räumen mit ihm gemeinsam den Müll nach und nach wieder hinaus. Beim Schocktrauma, also einem einmaligen, zeitlich begrenzten Ereignis, ist die beste Intervention, in der ersten Nacht nach dem Ereignis wach zu bleiben. Quelle und Inspiration hierzu fand ich in einer Zeitschrift über Immunbiologie. Darin stand, dass Schlafentzug die Wirkung einer am Tag zuvor gesetzten Impfung deutlich mindert: Es werden weit weniger Antikörper im Blut gebildet als bei einem Menschen, der schläft. Unser Körper übersetzt Eindrücke, die er aus unserem Denken und Erleben von außen erhält, in Biochemie. Ein Trauma ist im übertragenen Sinne also eine Impfung. Ich hatte in meiner Praxis bereits häufig Gelegenheit, den Nutzen von Schlafentzug in der ersten Nacht am realen Fall auszutesten und therapeutisch zu beobachten. Die Symptomentwicklung und die Wahrscheinlichkeit, eine Traumafolgestörung zu entwickeln, ließ sich messbar minimieren, wenn Betroffene die Möglichkeit hatten, in der ersten Nacht wach zu bleiben. Diese Betroffenen brauchten im Schnitt rund ein Drittel weniger Sitzungen, um das Geschehene zu verarbeiten.