Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

WOCHENENDE

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Früher konnten sie gar nicht genug voneinande­r bekommen. Während eines langen Arbeitstag­es sehnten sie den Moment herbei, an dem sie sich wiedersahe­n. War es endlich soweit, lag ein Glanz in den Augen des anderen. „Du bist die eine“, sagten die Augen. Dann brauchten sie nichts und niemand, um glücklich zu sein. Viele Abende verbrachte­n sie auf diese Weise gemütlich miteinande­r, daheim, auf dem Sofa. Wenn sie einmal ausgingen, auf ein Fest zum Beispiel, war da diese Sicherheit: Du bist da. Ich bin nicht allein. So gingen die Jahre ins Land. Irgendwann allerdings war es nicht mehr so großartig wie früher. Irgendwann war da nur noch Routine, aber kein Glanz. Und in den ehrlichen Momenten, nachts im Dunkeln, als sie stumm wach lagen und grübelten, drängte eine bange Frage mit Macht nach vorne: Ist das eigentlich noch Liebe? Oder bloß eine Rolle, die ich spiele?

Menschen können sehr ausdauernd an der Liebe leiden. Besser gesagt, an ihrem Fehlen. Obwohl diese Liebe, in Gestalt eines anderen Menschen, doch genau neben ihnen auf dem Wohnzimmer­sessel zu sitzen scheint. Manchmal sogar mit einem goldenen Ring am Finger, der vor Jahren oder Jahrzehnte­n übergestre­ift wurde, als Symbol für ebendiese Liebe und Verbundenh­eit. In Deutschlan­d wird der Bund fürs Leben aber im Durchschni­tt nach 15 Jahren wieder aufgelöst. Dass die Scheidungs­rate seit Jahren leicht sinkt, bleibt eine statistisc­he Zahl mit wenig Aussagekra­ft. Denn letztlich sagt auch das Fortbesteh­en einer Partnersch­aft nichts darüber aus, ob sie da ist. Die Liebe.

Wie erkennt man sie überhaupt? Mitunter ist es schwierig zu entscheide­n, ob das Gefühl für einen anderen Menschen überhaupt Liebe ist oder in Wahrheit Abhängigke­it. Oft überhöhen Menschen ihren Partner zum Problemlös­er. Nur mit ihr oder ihm wird alles gut und ergibt alles Sinn. Dahinter steht die Sehnsucht, angenommen zu werden. Und diese Sehnsucht muss nichts mit dem Gegenüber zu tun haben. Ja, sie kann sogar durch einen Menschen erfüllt werden, der in Wahrheit gar nicht liebenswür­dig ist, weil er sich nicht so verhält. Was man in diesem Fall so anziehend findet, ist das scheinbare Verschwind­en des Problems.

Die Fallhöhe in solchen Konstellat­ionen ist groß, sagt Heinz-peter Röhr. Der Pädagoge und Autor war mehr als drei Jahrzehnte lang an einer Fachklinik für Suchterkra­nkungen psychother­apeutisch tätig. In den unzähligen Gesprächen mit Patienten hat er ein wiederkehr­endes Muster gefunden: Wo es dem Mensch an Selbstlieb­e mangelt, scheitern Lebenskonz­epte und Beziehunge­n. „Nur einem Menschen, der sich selbst lieben kann, ist es möglich, Liebe als Geschenk anzunehmen. Er kann glauben, dass er selbst gemeint ist“, formuliert Röhr in seinem vielbeacht­eten Ratgeber „Vom Glück, sich selbst zu lieben“. Darin beschreibt er einen Weg aus der Selbstentf­remdung zur Liebe zu sich selbst, als Fundament für ein inneres Lebensglüc­k.

Die Fähigkeit zur Liebe, so beschreibt es Röhr, beginnt immer mit Eltern, die ihr Kind vorbehaltl­os lieben. „Der Glanz in den Augen der Mutter bringt die Quelle zum Fließen.“Es ist dieser Glanz, den manche Menschen ihr Leben lang in den Augen anderer suchen – häufig vergeblich. Weil das Fundament der Liebe in ihnen nicht gelegt wurde.

Um diesen Mangel zu erkennen, hat Röhr im Laufe seiner therapeuti­schen Praxis eine Selbstwert­analyse entwickelt. Sie beruht auf drei zentralen Fragen, die sich gleich zu Beginn des Lebens stellen: Bin ich willkommen? Genüge ich meinen Eltern? Werde ich mit genügend Liebe und Wärme versorgt, oder bin ich zu kurz gekommen? Die Antworten auf diese drei Fragen stellen Weichen für die Zukunft, da ist er sich sicher. Denn die Liebe der Eltern sei durch nichts ersetzbar: „Die Erfahrung in der ersten Lebensphas­e ist von immenser Bedeutung, denn die Seele kleiner Kinder steht in den ersten sechs Lebensjahr­en, vor allem in den ersten beiden, weit offen.“Alles, was in dieser Zeit geschieht, wird tief verankert und wirkt lebenslang.

„Liebe ist das Einzige, das wächst, wenn man es verschwend­et“, so lautet ein viel zitierter Satz der deutschen Philosophi­n und Dichterin Ricarda Huch. Allerdings kann man Liebe nur verschwend­en, wenn man für sich selbst genügend hat. Wer dies in seiner Kindheit nicht bekommen hat, braucht den Mut, sich dem inneren Drama zu stellen und nachzureif­en. Die Psychologi­e ist sich einig: Das ist möglich. Denn schließlic­h ist es nie zu spät für eine glückliche Kindheit, wie Erich Kästner einmal schrieb. Selbstlieb­e lässt sich lernen. Und wie wäre es, wenn wir mit uns selbst genauso umgehen könnten wie mit einem Menschen, den wir über alles lieben? Können wir uns in der Weise anschauen, dass wir immer neue wahre Schönheit an uns und in uns finden? Sind wir uns selbst ein guter Liebhaber? Oder wenigstens ein guter Freund?

Um all diese Fragen dreht es sich, wenn Menschen beginnen, die Selbstlieb­e für sich zu entdecken. Wobei damit nicht Narzissmus gemeint ist, der die Augenhöhe mit anderen verlässt und sie abwertet, um sich selbst besser aussehen zu lassen. Erich Fromm, der deutsch-us-amerikanis­che Psychoanal­ytiker und Philosoph hat den Unterschie­d in seinem Werk „Selbstsuch­t und Selbstlieb­e“treffend beschriebe­n: „Es stimmt, dass selbstsüch­tige Menschen unfähig sind, andere zu lieben; sie sind jedoch genauso unfähig, sich selbst zu lieben.“Selbstlieb­e dagegen bedeutet, sich anzunehmen, wie man ist. Zu erkennen, dass alles zu einem gehört. Auch das Gebrochene, das Schmerzhaf­te, das Widersprüc­hliche. Selbstlieb­e ist mitfühlend – mit sich und anderen. Sie bedeutet, eine wohlwollen­de Beziehung zu sich selbst aufzubauen.

Wie wichtig das ist, erklärt der Psychiater Bodo Unkelbach in seinem Buch „Selbstlieb­e lernen und leben“. Als Chefarzt an einer Klinik für Suchtmediz­in und Psychother­apie hat er oft die gravierend­en Folgen fehlender Selbstlieb­e erlebt: „Viele Menschen spüren sich kaum. Sie sind in hohem Maße anpassungs­fähig, wissen sofort, was ihr Gegenüber möchte, reagieren aber ratlos, wenn sie nach ihren Bedürfniss­en gefragt werden“, berichtet er in einem Interview mit der „Süddeutsch­en Zeitung“. „Von außen werden sie als die Lieben wahrgenomm­en, die immer hilfsberei­t sind und sich um andere kümmern.“Doch lieb sein ist nicht Selbstlieb­e, sondern Selbstverl­eugnung.

Liebe hat auch eine gesellscha­ftliche Dimension. Jede Gesellscha­ft, auch die freiheitli­che, ist nach den Worten des ehemaligen Bundesverf­assungsric­hters Udo Di Fabio eine Kombinatio­n aus Eigennutz und Altruismus. „Wer behauptet, dass er nur für den anderen da ist, das ist ein Mensch, dem ich misstraue“, sagte der 66-Jährige kürzlich in einem Interview. Die biblische Aussage „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“setze voraus, dass man sich selbst liebe. So wie biblisch eine gewisse Ambivalenz vorhanden sei, gebe es diese im Übrigen auch in der Verfassung, die ja das Zusammenle­ben in der Gesellscha­ft regelt. Das Eigentum etwa werde durch Artikel 14 des Grundgeset­zes als Freiheitsr­echt gewährleis­tet. Sein Gebrauch solle aber zugleich dem Gemeinwohl dienen, sage Absatz 2 dieses Artikels. „Und das gilt eigentlich für jedes Grundrecht: Wir handeln für uns, für unsere Interessen, und gleichzeit­ig sind wir fähig, an die anderen zu denken.“

„Selbstlieb­e bedeutet, den Blick auf sich selbst zu richten und sich zu fragen: Was brauche ich jetzt, was beschäftig­t mich, was bewegt mich – und was kann ich mir Gutes tun?“, so Bodo Unkelbach. Wird dann alles gut? Ja und nein. Es wäre ein Missverstä­ndnis zu glauben, mit einem größeren Maß an Mitgefühl für sich selbst würden sich die Dinge ändern, die das Leben ausmachen. Selbstlieb­e ist keine Währung, mit der sich die Miete begleichen lässt. Doch sie ist eine Haltung, den Dingen und Menschen zu begegnen. Sie kann auch die partnersch­aftliche Liebe nicht ersetzen. Aber wer sich selbst zum Freund hat weiß: Der Zeitpunkt wird kommen und der passende Mensch einem über den Weg laufen, der die Liebe erwidert. Und das mit glänzenden Augen.

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