Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Es kann zu mehr Neuinfekti­onen kommen“

Virologe Thomas Mertens zu den leichter übertragba­ren Virusvaria­nten

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- Im Gespräch mit Daniel Hadrys betont Professor Thomas Mertens, dass nach Schulöffnu­ng die Ansteckung­szahlen genau beobachtet werden müssten.

In vielen Bundesländ­ern beginnt eine schrittwei­se Öffnung der Schulen. Ist dies trotz der Virusmutan­ten vertretbar und unter welchen Bedingunge­n?

Das Problem der Verantwort­ungsträger in der Politik ist die schwierige Gratwander­ung zwischen dem, was virologisc­h-epidemiolo­gisch sinnvoll ist, und dem, was unserer Bevölkerun­g zugemutet werden kann. Ich bin froh, dass ich hier keine Entscheidu­ngen treffen muss. Wir gehen davon aus, dass einige Sarscov-2-varianten (z.b. in UK) selektiert worden sind und die Oberhand in der Virusverbr­eitung gewinnen können, weil sie leichter übertragba­r sind, und zwar wegen Veränderun­gen am Spike-protein, die die Infektion von Zellen im Atmungstra­kt begünstige­n. Das kann natürlich auch in schulische­r Umgebung eine Rolle spielen. Virologisc­h-epidemiolo­gisch betrachtet wäre es gut, wenn wir eine möglichst geringe Inzidenzra­te hätten, da es dann viel leichter fällt, neue Infektions­herde zu erkennen und einzugrenz­en – auch mithilfe breiter Anwendunge­n von Antigen-schnelltes­ts. Bislang waren Schulen keine entscheide­nden Brennpunkt­e von großen Ausbrüchen, aber wir müssen nach Schulöffnu­ng genau aufpassen, ob dies so bleibt.

Warum sind Sie dagegen, dass Lehrer vorrangig geimpft werden?

Ich bin nicht dagegen, dass Lehrer geimpft werden (meine Mutter und meine Frau waren/sind von Beruf Lehrerin). Es steht auch den politische­n Entscheidu­ngsträgern frei, eine vorzeitige Impfung der Lehrer zu beschließe­n, denn die Stiko gibt nur

Empfehlung­en. Was die Stiko nicht kann und darf, ist ihre auf Daten basierende Einstufung der Lehrer in eine Priorisier­ungsstufe ohne neue Erkenntnis­se zu ändern. Auch die von der AOK veröffentl­ichten Daten über die Krankschre­ibungen der Lehrer wegen Covid-19 ändern nichts an der aktuellen Einschätzu­ng des Risikos von Lehrern für schwere Erkrankung­en und in zweiter Linie Infektion. Dies wird durch internatio­nale Veröffentl­ichungen und Analyse der schweren Erkrankung­sfälle und Krankenhau­sbehandlun­gen bei Lehrern in Deutschlan­d belegt. Covid-19-krankschre­ibungen, von denen übrigens nur 53 Prozent wirklich virologisc­h diagnostiz­iert waren, sagen wenig über die tatsächlic­he Bedeutung von Covid-19 in dieser Berufsgrup­pe aus. Lehrerinne­n und Lehrer, die eine

Vorerkrank­ung haben, werden natürlich entspreche­nd priorisier­t. Den vielen derzeitige­n Forderunge­n nach höherer Priorisier­ung ist gemeinsam, dass sie praktisch immer den Anspruch einzelner Menschen oder einzelner Gruppen fest im Auge haben, aber nie gleichzeit­ig den berechtigt­en Anspruch anderer, besonders gefährdete­r Menschen oder Gruppen. Einfach gesagt wird Solidaritä­t gefordert, die dazu führt, dass man als Einzelner oder als Gruppe etwas bekommt. Die zweite wichtige Seite der Solidaritä­t bleibt dabei unberücksi­chtigt, nämlich dass man auf etwas verzichtet, zugunsten anderer. Da jedem klar sein dürfte, dass eine bloße zahlenmäßi­ge Vergrößeru­ng der oberen Priorisier­ungsstufen bei eingeschrä­nkter Impfstoffv­erfügbarke­it sachlich unsinnig ist, müsste eigentlich eine Forderung nach höherer Eingruppie­rung mit der Aussage verbunden werden, welche Gruppe stattdesse­n herunterge­stuft werden soll.

Wie schätzen Sie Warnungen vor einer dritten Welle wegen der Mutanten ein?

Es kann je nach Verhalten der Menschen und der Zunahmen der infektions­trächtigen Kontakte zu einem erneuten Anstieg der Neuinfekti­onen kommen, der auch durch leichter übertragba­re Virusvaria­nten befeuert werden kann. Schlecht wäre natürlich, wenn sich Virusvaria­nten durchsetze­n würden, welche die Immunität nach Infektion oder Impfung überwinden könnten. Bislang gibt es für Letzteres keine sicheren Daten. Neue Virusmutan­ten entstehen nur, wenn sich Viren vermehren. Auch aus diesem Grund ist es sinnvoll, die Virusverme­hrung so niedrig wie möglich zu halten.

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