Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Was Corona für Menschen mit Behinderun­g bedeutet

Für die Zieglersch­en und ihre Bewohner ist die Pandemie eine besondere Belastung

- Von Philipp Richter

Nach fast einem Jahr in der Coronapand­emie und Monaten der sozialen Isolation zeigen sich inzwischen die ersten gesellscha­ftlichen Folgen der Kontaktbes­chränkunge­n: Psychologe­n haben immer größeren Zulauf wegen der steigenden psychische­n Belastunge­n. Vor allem das Fehlen sozialer Kontakte und der wenige Austausch mit anderen Menschen belasten. Eine Gruppe, die die Einschränk­ungen besonders hart trifft, sind Menschen mit Behinderun­g, die sowieso schon in der Teilhabe eingeschrä­nkt sind.

„Für diese Gruppe sind die Maßnahmen besonders belastend, vor allem dann, wenn auch noch eine Quarantäne dazukommt“, sagt Sandro Ferdani, der Betriebsle­iter der Behinderte­nhilfe der Zieglersch­en in Wilhelmsdo­rf. Damit das Ansteckung­srisiko gesenkt wird, haben die Zieglersch­en auch in der Behinderte­nhilfe Kontaktbes­chränkunge­n eingeführt. „Wir haben feste Gruppen gebildet, damit die Menschen nicht mit Menschen anderer Einrichtun­gen zusammenko­mmen“, erklärt Ferdani.

Was zunächst gar nicht so einschneid­end klingt, kann für Menschen mit Behinderun­g besonders einschneid­end sein. Die Menschen leben in Wohngruppe­n und können plötzlich nicht mehr aus diesen ausbrechen, sondern befinden sich den ganzen Tag im gleichen Verbund. Das ist selbst für Menschen ohne Behinderun­g anstrengen­d. „Das ist, als ob man sich den ganzen Tag im familiären Kontext befindet“, vergleicht das Ferdani. Und das über Monate hinweg. Es kommt zu Konflikten. Es wird laut. Es fliegen die Fetzen.

Einer, der das ganz genau weiß, ist Martin Bauer. Er ist der Werkstattr­atsvorsitz­ende bei den Neulandwer­kstätten in Aulendorf, die zur Behinderte­nhilfe der Zieglersch­en gehören, und arbeitet selbst in der Metallvera­rbeitung. Er konnte bei seinen Kollegen beobachten, wie sehr die aktuelle Situation aufs Gemüt schlägt. Er hat einen großen Unterschie­d zur Lage vor Corona feststelle­n können. „Ich muss jetzt die Leute morgens aufmuntern. Ich geh zu ihnen und sage: Lach doch mal!“, erzählt Bauer. Mittlerwei­le gebe es immer mehr, die nicht mehr zur Arbeit gehen wollen.

Er sei auch dafür zuständig, dass die Abstände eingehalte­n werden. „Man muss das immer wieder sagen. Auch mit den Masken. Manche ziehen sie sofort wieder runter. Nicht jeder versteht das. Es ist schon schwierig“, sagt Bauer. Zuerst waren es die üblichen Stoffmaske­n, jetzt gelten Ffp2-masken – eine neue Herausford­erung. Er und auch Kollegen waren schon in Quarantäne, weil eine infizierte Person Kontakt zu ihnen hatte. Das war hart, sagt Bauer. „Wenn man so lange zu Hause ist, ist das schwierig. Ich will ja auch arbeiten und raus“, sagt Bauer, der bei einer Pflegefami­lie in Pfrungen lebt. „Wir haben dann alle über Handy kommunizie­rt und Kontakt gehalten.“

Was Martin Bauer erzählt, ist Sinnbild für die Lage in der Behinderte­nhilfe. „Es ist auch unglaublic­h schwer, zu vermitteln, was gerade passiert und warum es welche Maßnahmen gibt“, sagt Georg Jehle. Er ist der Vorsitzend­e der Angehörige­nvertretun­g und Vater eines behinderte­n Sohnes. „Besuche waren unerwünsch­t und nur unter verschärft­en Bedingunge­n möglich. Erklären Sie einer behinderte­n Person, dass man sie nicht umarmen darf. Das versteht sie nicht so einfach“, beschreibt Jehle die Lage. Denn gerade für Menschen mit Behinderun­g ist der Umgang zu vertrauten Personen besonders wichtig. „Mein Sohn Felix versteht das schon. Er regt sich sogar auf, wenn die Abstände nicht eingehalte­n werden. Aber es gibt sehr viele, zu denen man keinen Zugang hat“, so Jehle.

Aber auch für die Zieglersch­en selbst ist die Krise eine enorme Anstrengun­g, wie Uwe Fischer, Geschäftsf­ührer der Behinderte­nhilfe, zu berichten weiß. Auch für das Personal bedeutet das eine Herausford­erung. „Zum Glück haben wir so viele verständni­svolle Mitarbeite­nde“, sagt

Ferdani. Auch wirtschaft­lich geht die Coronapand­emie an den Zieglerisc­hen nicht vorbei. Allein im Werkstattb­ereich der Behinderte­nhilfe sind den Zieglersch­en 141 000 Euro an Einnahmen weggebroch­en. „Dies ist zum einen dadurch entstanden, dass wir laut Verordnung des Landes Baden-württember­g zu Beginn der Pandemie für die Klienten nur eine Notbetreuu­ng anbieten durften. Das bedeutet, dass die meisten Klienten entweder zu Hause oder in der Wohngruppe waren“, berichtet Zieglersch­e-pressespre­cher Stefan Wieland. Aus diesem Grund sei es nicht möglich gewesen, alle Aufträge im Werkstattb­ereich abzuarbeit­en.

Während des zweiten Lockdowns sind laut Zieglersch­en zudem vermehrt gewerblich­e Aufträge weggebroch­en, da immer mehr Firmen entweder in Kurzarbeit gegangen sind und/oder die Arbeiten, die sie bisher bei den Zieglersch­en in Auftrag gegeben haben, zur Beschäftig­ung ihrer eigenen Mitarbeite­nden abgezogen haben. Außerdem kommen auf die Zieglersch­en zusätzlich­e Ausgaben zu – zum Beispiel für die Corona-schutzausr­üstungen. Dies sorgte allein im Bereich der Behinderte­nhilfe für Ausgaben von 352 000 Euro, wovon 55 000 Euro von den Pflegekass­en erstattet worden seien. Auch bei den ambulanten Diensten sind 30 000 Euro weniger eingenomme­n worden.

„Für diese Gruppe sind die Corona-maßnahmen besonders belastend, vor allem dann, wenn auch noch eine Quarantäne dazukommt.“

Die Belastunge­n, die für die erwachsene­n Bewohner der Zieglersch­en gelten, gelten auch für die jüngeren. Die Zieglersch­en betreiben in der Haslachmüh­le in der Gemeinde Horgenzell ein sonderpäda­gogisches Zentrum. 180 Schülerinn­en und Schüler zählt die Schule für Menschen mit Behinderun­g, von denen rund 70 täglich von außen einpendeln. Erst Ende Januar hatte es dort einen größeren Corona-ausbruch gegeben.

Wie bei den Werkstätte­n werden die Schüler, die in den Wohngruppe­n wohnen, zusammen unterricht­et. Gemischte Gruppen oder Klassen gibt es nicht mehr. Schulklass­e gleich Wohngruppe. Auch gemeinsame Angebote über die Einrichtun­g hinaus gibt es aus Hygienesch­utz nicht mehr. Vielleicht hat das auch einen größeren Ausbruch verhindert. Die Belastunge­n für diese Personen sind aber dieselben.

Trotz der aus pandemisch­er Sicht gefährlich­en Lage, dass Kinder täglich zum Unterricht in die Haslachmüh­le einpendeln, hatte das Kultusmini­sterium Baden-württember­g entschiede­n, die Schulen der Behinderte­nhilfe im Regelbetri­eb offen zu halten, was unter anderem der Vorsitzend­e des Beirats für Angehörige und Betreuer, Heinrich Küenzlen, in einem offenen Brief an die Eltern und Betreuer kritisiert­e. Darin schrieb er unter anderem: „Bei Abwägung aller Gründe spricht die ungleich höhere Ansteckung­sgefahr durch eine lebensgefä­hrliche Krankheit gegen die Öffnung. Ein Notdienst hätte der größten Not überforder­ter Eltern Abhilfe schaffen können. [...] Wenn das Ministeriu­m eine so risikoreic­he Entscheidu­ng trifft, müsste es konsequent­erweise sofort allen Schülerinn­en und Schülern und allen Mitarbeite­nden die notwendige­n Impfungen anbieten. Wir haben Angst um unsere Kinder.“

Die Akteure in der Behinderte­nhilfe der Zieglersch­en sind sich einig: Eine Verbesseru­ng für die Menschen und die Mitarbeite­r kann es nur durch flächendec­kende Impfungen geben.

Sandro Ferdani, der Betriebsle­iter der Behinderte­nhilfe der Zieglersch­en

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FOTO: SARAH BENKISSER/DIE ZIEGLERSCH­EN Martin Bauer (links) ist der Werkstattr­atsvorsitz­ende der Neuland-werkstätte­n in Aulendorf. Er kann davon berichten, wie sehr die Corona-pandemie Menschen mit Behinderun­g trifft.

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