Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Was Corona für Menschen mit Behinderung bedeutet
Für die Zieglerschen und ihre Bewohner ist die Pandemie eine besondere Belastung
Nach fast einem Jahr in der Coronapandemie und Monaten der sozialen Isolation zeigen sich inzwischen die ersten gesellschaftlichen Folgen der Kontaktbeschränkungen: Psychologen haben immer größeren Zulauf wegen der steigenden psychischen Belastungen. Vor allem das Fehlen sozialer Kontakte und der wenige Austausch mit anderen Menschen belasten. Eine Gruppe, die die Einschränkungen besonders hart trifft, sind Menschen mit Behinderung, die sowieso schon in der Teilhabe eingeschränkt sind.
„Für diese Gruppe sind die Maßnahmen besonders belastend, vor allem dann, wenn auch noch eine Quarantäne dazukommt“, sagt Sandro Ferdani, der Betriebsleiter der Behindertenhilfe der Zieglerschen in Wilhelmsdorf. Damit das Ansteckungsrisiko gesenkt wird, haben die Zieglerschen auch in der Behindertenhilfe Kontaktbeschränkungen eingeführt. „Wir haben feste Gruppen gebildet, damit die Menschen nicht mit Menschen anderer Einrichtungen zusammenkommen“, erklärt Ferdani.
Was zunächst gar nicht so einschneidend klingt, kann für Menschen mit Behinderung besonders einschneidend sein. Die Menschen leben in Wohngruppen und können plötzlich nicht mehr aus diesen ausbrechen, sondern befinden sich den ganzen Tag im gleichen Verbund. Das ist selbst für Menschen ohne Behinderung anstrengend. „Das ist, als ob man sich den ganzen Tag im familiären Kontext befindet“, vergleicht das Ferdani. Und das über Monate hinweg. Es kommt zu Konflikten. Es wird laut. Es fliegen die Fetzen.
Einer, der das ganz genau weiß, ist Martin Bauer. Er ist der Werkstattratsvorsitzende bei den Neulandwerkstätten in Aulendorf, die zur Behindertenhilfe der Zieglerschen gehören, und arbeitet selbst in der Metallverarbeitung. Er konnte bei seinen Kollegen beobachten, wie sehr die aktuelle Situation aufs Gemüt schlägt. Er hat einen großen Unterschied zur Lage vor Corona feststellen können. „Ich muss jetzt die Leute morgens aufmuntern. Ich geh zu ihnen und sage: Lach doch mal!“, erzählt Bauer. Mittlerweile gebe es immer mehr, die nicht mehr zur Arbeit gehen wollen.
Er sei auch dafür zuständig, dass die Abstände eingehalten werden. „Man muss das immer wieder sagen. Auch mit den Masken. Manche ziehen sie sofort wieder runter. Nicht jeder versteht das. Es ist schon schwierig“, sagt Bauer. Zuerst waren es die üblichen Stoffmasken, jetzt gelten Ffp2-masken – eine neue Herausforderung. Er und auch Kollegen waren schon in Quarantäne, weil eine infizierte Person Kontakt zu ihnen hatte. Das war hart, sagt Bauer. „Wenn man so lange zu Hause ist, ist das schwierig. Ich will ja auch arbeiten und raus“, sagt Bauer, der bei einer Pflegefamilie in Pfrungen lebt. „Wir haben dann alle über Handy kommuniziert und Kontakt gehalten.“
Was Martin Bauer erzählt, ist Sinnbild für die Lage in der Behindertenhilfe. „Es ist auch unglaublich schwer, zu vermitteln, was gerade passiert und warum es welche Maßnahmen gibt“, sagt Georg Jehle. Er ist der Vorsitzende der Angehörigenvertretung und Vater eines behinderten Sohnes. „Besuche waren unerwünscht und nur unter verschärften Bedingungen möglich. Erklären Sie einer behinderten Person, dass man sie nicht umarmen darf. Das versteht sie nicht so einfach“, beschreibt Jehle die Lage. Denn gerade für Menschen mit Behinderung ist der Umgang zu vertrauten Personen besonders wichtig. „Mein Sohn Felix versteht das schon. Er regt sich sogar auf, wenn die Abstände nicht eingehalten werden. Aber es gibt sehr viele, zu denen man keinen Zugang hat“, so Jehle.
Aber auch für die Zieglerschen selbst ist die Krise eine enorme Anstrengung, wie Uwe Fischer, Geschäftsführer der Behindertenhilfe, zu berichten weiß. Auch für das Personal bedeutet das eine Herausforderung. „Zum Glück haben wir so viele verständnisvolle Mitarbeitende“, sagt
Ferdani. Auch wirtschaftlich geht die Coronapandemie an den Zieglerischen nicht vorbei. Allein im Werkstattbereich der Behindertenhilfe sind den Zieglerschen 141 000 Euro an Einnahmen weggebrochen. „Dies ist zum einen dadurch entstanden, dass wir laut Verordnung des Landes Baden-württemberg zu Beginn der Pandemie für die Klienten nur eine Notbetreuung anbieten durften. Das bedeutet, dass die meisten Klienten entweder zu Hause oder in der Wohngruppe waren“, berichtet Zieglersche-pressesprecher Stefan Wieland. Aus diesem Grund sei es nicht möglich gewesen, alle Aufträge im Werkstattbereich abzuarbeiten.
Während des zweiten Lockdowns sind laut Zieglerschen zudem vermehrt gewerbliche Aufträge weggebrochen, da immer mehr Firmen entweder in Kurzarbeit gegangen sind und/oder die Arbeiten, die sie bisher bei den Zieglerschen in Auftrag gegeben haben, zur Beschäftigung ihrer eigenen Mitarbeitenden abgezogen haben. Außerdem kommen auf die Zieglerschen zusätzliche Ausgaben zu – zum Beispiel für die Corona-schutzausrüstungen. Dies sorgte allein im Bereich der Behindertenhilfe für Ausgaben von 352 000 Euro, wovon 55 000 Euro von den Pflegekassen erstattet worden seien. Auch bei den ambulanten Diensten sind 30 000 Euro weniger eingenommen worden.
„Für diese Gruppe sind die Corona-maßnahmen besonders belastend, vor allem dann, wenn auch noch eine Quarantäne dazukommt.“
Die Belastungen, die für die erwachsenen Bewohner der Zieglerschen gelten, gelten auch für die jüngeren. Die Zieglerschen betreiben in der Haslachmühle in der Gemeinde Horgenzell ein sonderpädagogisches Zentrum. 180 Schülerinnen und Schüler zählt die Schule für Menschen mit Behinderung, von denen rund 70 täglich von außen einpendeln. Erst Ende Januar hatte es dort einen größeren Corona-ausbruch gegeben.
Wie bei den Werkstätten werden die Schüler, die in den Wohngruppen wohnen, zusammen unterrichtet. Gemischte Gruppen oder Klassen gibt es nicht mehr. Schulklasse gleich Wohngruppe. Auch gemeinsame Angebote über die Einrichtung hinaus gibt es aus Hygieneschutz nicht mehr. Vielleicht hat das auch einen größeren Ausbruch verhindert. Die Belastungen für diese Personen sind aber dieselben.
Trotz der aus pandemischer Sicht gefährlichen Lage, dass Kinder täglich zum Unterricht in die Haslachmühle einpendeln, hatte das Kultusministerium Baden-württemberg entschieden, die Schulen der Behindertenhilfe im Regelbetrieb offen zu halten, was unter anderem der Vorsitzende des Beirats für Angehörige und Betreuer, Heinrich Küenzlen, in einem offenen Brief an die Eltern und Betreuer kritisierte. Darin schrieb er unter anderem: „Bei Abwägung aller Gründe spricht die ungleich höhere Ansteckungsgefahr durch eine lebensgefährliche Krankheit gegen die Öffnung. Ein Notdienst hätte der größten Not überforderter Eltern Abhilfe schaffen können. [...] Wenn das Ministerium eine so risikoreiche Entscheidung trifft, müsste es konsequenterweise sofort allen Schülerinnen und Schülern und allen Mitarbeitenden die notwendigen Impfungen anbieten. Wir haben Angst um unsere Kinder.“
Die Akteure in der Behindertenhilfe der Zieglerschen sind sich einig: Eine Verbesserung für die Menschen und die Mitarbeiter kann es nur durch flächendeckende Impfungen geben.
Sandro Ferdani, der Betriebsleiter der Behindertenhilfe der Zieglerschen