Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Disziplinarisches aus der Distanz
Das schlichte und ins Rustikale changierende Konzept der Richtwatschen ist aus der pädagogischen Praxis weitgehend verschwunden. Im Klassenzimmer, die ja noch immer großteils verwaist sind, schallen selbst im Normalbetrieb keine Ohrfeigen mehr. Höchstens das Gelächter der Schüler über den Lehrkörper, dessen disziplinarisches Instrumentarium überschaubar geworden ist. Gewalt jeder Art – psychische wie körperliche – ist Tabu. Den Schüler in ironisierender Weise anzusprechen, birgt dieser Tage zudem das Risiko, im Internet als mobbender Pauker bloßgestellt zu werden.
Entsprechend verunsichert ist das Lehrpersonal. Früher verlief stets eine scharfe Trennlinie zwischen Schulgebäude und elterlicher Wohnung. Heute schaltet sich die Lehrkraft direkt ins Kinderzimmer, während der Schüler Einblicke in die private Wohnlandschaft seiner Lehrerin gewinnt. Die Sphären mischen sich. Offenbarungen offenbaren sich und man erfährt Dinge, die man eigentlich gar nicht wissen wollte.
Der zwischenmenschliche Zugriff auf Schüler durch Lehrer steht also nur noch auf digitalen Füßen, wodurch zu überlegen ist, wie unter solchen Umständen noch Zucht und Ordnung zu gewährleisten sind. In die Ecke stellen und über seine Verfehlungen nachdenken, verfehlt freilich seine Wirkung ohne ein Klassenzimmer. Zum Rektor geschickt werden, um einen Verweis zu kassieren, bedürfte neben antiseptischer Vollverschleierung auch zweier Coronaschnelltests. Was tun? Am besten, man intensiviert die Forschung an der digitalen Richtwatschen. (nyf)