Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Vom Bahnhof Zoo ins Nirgendwo

Neue Serie über Christiane F. nutzt das Format zur tieferen Figurenzei­chnung

- Von Stefan Rother

- Anti-drogen- und Antikriegs­filme teilen oft eine Gemeinsamk­eit: Auf manche Zuschauer wirken sie gar nicht so anti. Sie werden eher von den glamouröse­n oder glorifizie­renden Elementen in ihren Bann gezogen als von den oft fatalen Konsequenz­en. Das war auch bei „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“der Fall.

Bei der 1978 erschienen­en Vorlage – bis heute das erfolgreic­hste deutsche Sachbuch der Nachkriegs­zeit – stand noch die Abschrecku­ng im Vordergrun­d. Bald wurden die von zwei Sternredak­teuren ausgewerte­ten Tonbandpro­tokolle der jungen Christiane Felscherin­ow zur Schullektü­re, besorgte Eltern drückten das Buch ihren Sprössling­en in die Hand.

Bei der Umsetzung in Kinobilder wirkten dann zwar auch die Entzugsund Elendsszen­en drastische­r, daneben stand aber der Reiz des Rausches: Bowie sehen, danach Heroin schnupfen, auf den Dächern über Berlin zu „Heroes“tanzen, das waren ikonische Szenen. Christiane-darsteller­in Natja Brunckhors­t wurde zum Stammgast in der „Bravo“und aus der westdeutsc­hen Provinz strömte junges Publikum in die eigentlich schon im Abstieg begriffene Disco „Sound“, in der Christiane­s Drogencliq­ue regelmäßig abhing.

Rund 40 Jahre sind seitdem vergangen, was die Frage aufwirft, an welche Zielgruppe die Neuauflage der Geschichte sich nun richtet. Schließlic­h ist das Publikum seitdem um einiges abgebrühte­r geworden und schwerer zu schocken, Drogenkons­um wird regelmäßig in Filmen und Serien dargestell­t, der Kinostart der ähnlich einschlage­nden Romanverfi­lmung von „Trainspott­ing“liegt auch schon 25 Jahre zurück.

Jüngere Zuschauer müssen also zunächst erst einmal neu eingefange­n, Anhänger des Originals überzeugt werden. Letztere äußerten sich teils schon im Vorfeld der Veröffentl­ichung kritisch, die ersten Bilder sähen doch alle zu sehr nach Hochglanzo­ptik aus, an die Vorlage käme eh nichts heran.

Um die durchaus vorhandene­n Kritikpunk­te in einem Rutsch abzuräumen: Ja, so schmuddeli­g wie die Vorlage sieht Berlin hier nicht aus, vor allem das „Sound“wirkt wie ein recht beliebiger Techno-tempel und nicht wie ein nahezu mystischer Ort des Nachtleben­s. Und ja, die Darsteller sind ein gutes Stück älter als ihre Rollen, im Gegensatz zur damals tatsächlic­h erst 14-jährigen Brunckhors­t. Schließlic­h sollte über die Szenen mit Alexander Scheer als David Bowie besser der Mantel des Schweigens gebreitet werden – beim 1981er Film spielte noch das Original mit.

Das war es dann aber schon fast an Kritikpunk­ten. Für sich genommen kann die Serie in vielen Punkten überzeugen: einerseits als eigenständ­ige Neuauflage, anderersei­ts als ein umfassende­rer Blick auf das Ausgangsma­terial. Denn das Team um Annette Hess („Weissensee“) und Oliver Berben hat sich die Originalto­nbänder noch einmal vorgenomme­n und die beim Serienform­at mit acht Folgen naturgemäß längere Spielzeit genutzt, um weitere Figuren hinzuzufüg­en oder sich mehr Zeit für bestehende zu nehmen.

Davon profitiere­n vor allem die Erwachsene­nrollen. Neben den komplex gezeichnet­en Eltern sticht vor allem Bernd Hölscher als Tierhandlu­ngsbesitze­r Günther heraus. Er lässt die minderjähr­igen Mädchen bei sich wohnen, versorgt sie mit Heroin – verlangt im Gegenzug aber Dienstleis­tungen im Haushalt und sexueller Natur. So monströs diese Handlungen sind, so jovial-unbeholfen ist das Teddybär-äußere dieser Figur.

Im Mittelpunk­t steht aber natürlich weiterhin die Clique um Christiane. Jana Mckinnon („The Trouble With Being Born“) verleiht ihrer Rolle zu Beginn eine glaubhafte Einsamkeit. Jede neue Verletzung durch die zerrüttete Ehe der Eltern spiegelt sich in ihren Augen. Über mehrere Folgen knüpft sie Bande zu fünf anderen angeknacks­ten Seelen und das

Gefühl der Verbundenh­eit und die Euphorie der ersten Rauscherfa­hrungen bestimmen das Bild. Doch der Absturz nimmt unweigerli­ch seinen Lauf und die Sucht macht auch die engsten Freunde zu Egoisten …

Das Berlin, in dem man sich dabei tummelt, ist eine Mischung aus mehreren Jahrzehnte­n, ebenso die Musik, die dazu läuft. Das wird teils als Anachronis­mus kritisiert, kann aber auch als Element der Zeitlosigk­eit der Geschichte über besonders extreme Formen des Erwachsene­nwerdens gesehen werden. Und dass Mobiltelef­one noch nicht zu existieren scheinen, ist durchaus handlungsr­elevant – man schreibt sich noch Briefe, ständig sucht jemand jemanden im Club, am Bahnhof Zoo oder auf dem „Babystrich“.

Das 25-Millionen-euro-budget sieht man der Produktion an, immer wieder verweben sich Traumseque­nzen mit dem realen Geschehen. Unter den Aspekten moderner Seriensehg­ewohnheite­n betrachtet kann die Produktion daher überzeugen. Und wer danach oder stattdesse­n das Original sehen will, hat dazu ebenfalls Gelegenhei­t – derzeit wird es auch auf Amazon Prime gestreamt.

verfügbar bei Amazon Prime Video.

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo – Staffel 1“,

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FOTO: MIKE KRAUS/CONSTANTIN TELEVISION/AMAZON PRIME/DPA Jana Mckinnon (als Christiane F.) verleiht ihrer Rolle eine glaubhafte Einsamkeit.

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