Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Das hat uns den Boden unter den Füßen weggerissen“
Spital-mitarbeiter berichten von belastender Corona-zeit – Zusammenhalt im Team wurde während der Krise aber weiter gestärkt
- Das Coronavirus hat den Alltag im Alten- und Pflegeheim Spital zum Heiligen Geist in Bad Waldsee in den vergangenen Monaten geprägt. Nun sind die zweiten Impfungen erfolgreich verabreicht worden und Erleichterung ist eingekehrt. Dem Aufatmen gingen emotional aufwühlende Zeiten voraus, wie die Verantwortlichen des Spitals im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“berichten. Leiter und Mitarbeiter gewähren einen intimen Einblick in ihr Seelenleben und zeigen auf, welche Arbeitsintensität die Krise für das Pflegeheim mit sich gebracht hat.
An den 26. Februar 2020 erinnert sich Spitalleiter Roland Haug noch ganz genau. In allen Medien wird über das neuartige Coronavirus berichtet, die Tragweite der Pandemie wird deutlich. Ad hoc müssen Desinfektionsmittel und Handschuhe bestellt werden. Und das ist ob der hohen Nachfrage allerorts gar nicht so einfach. Handlungsanweisungen gibt es nicht, anfangs scheinen alle Pflegeheime auf sich alleine gestellt zu sein. Kurz darauf ruft Haug erstmals die hausinterne „Koordinationsgruppe Corona“zusammen, die als Krisenstab fungiert. „Das hat mir damals Angst gemacht. Es galt Entscheidungen zu treffen, die weitreichende Auswirkungen auf das Spital haben werden“, sagt Haug und kratzt sich die Stirn. Gemeinsam überlegen die Spital-verantwortlichen, was im Fall der Fälle, also bei einem Coronaausbruch, unternommen werden muss, um Mitarbeiter und Bewohner bestmöglich zu schützen. Woche für Woche trifft sich die Gruppe und sieht sich immer neuen Verordnungen ausgesetzt. „Manchmal war es so, dass das, was wir uns am Morgen überlegt haben, am Nachmittag von einer neuen Verordnung schon wieder über den Haufen geworfen wurde“, verdeutlicht Hygienebeauftragte Stefanie Deck die hohe Dynamik jener Zeit und die stellvertretende Spitalleiterin Heike Mollet ergänzt: „Wir sind regelrecht überhäuft worden mit Vorgaben.“
An Ostern wird die erste weitreichende Maßnahme umgesetzt und das Spital eingezäunt. „Das war erschreckend und hat Narben bei unseren Bewohnern hinterlassen. Das war eigentlich die schwierigste Zeit“, betont Haug und hält inne. Es ist ihm deutlich anzumerken, wie sehr ihm das Wohl der Bewohner und seiner Mitarbeiter am Herzen liegt. „Diese Zeit wurde als beklemmend und beängstigend empfunden“, verdeutlicht der Spitalleiter die Brisanz, die einzig die Mitarbeiter mit ihrer leidenschaftlichen Pflege der Bewohner wegzudrängen vermochten. Schließlich waren Angehörigen-besuche
untersagt und Videoschalten nur in Einzelfällen realisierbar. „Wir haben den Angehörigen viel abverlangt“, erklärt Haug die einschneidende aber nötige Schutzmaßnahme. Per Newsletter wurden die Angehörigen regelmäßig informiert und „wir haben deren Vertrauen gespürt“, sagt Haug.
Es folgte der entspannte Sommer und vergnügliche Stunden im neuen Spital-garten, ehe der Herbst die Übermacht des Virus unerbittlich vor Augen führte. Am 12. November wurde der erste Corona-fall im Spital bekannt, ein Mitarbeiter hatte sich nachweislich infiziert. Parallel dazu erkrankte ein Bewohner, der Test fiel ebenfalls positiv aus. „Das hat uns den Boden unter den Füßen weggerissen“, berichtet Haug. Sofort griffen die von der „Koordinationsgruppe Corona“erarbeiteten Maßnahmen. Doch die Abschottung im voll belegten Spital ist nicht ohne und gar nicht so einfach, wie es von manch staatlicher Stelle theoretisch aufgezeigt wird. „Das hört sich einfach an, man soll alle isolieren. Aber man weiß von vorn herein, dass das in einem Pflegeheim nicht zu 100 Prozent zu realisieren ist“, betont Mollet. Sämtliche Szenarien seien vorab gedanklich durchgespielt worden und dann kam doch alles ganz anders.
Zu jener Zeit waren es die Mitarbeiter bereits gewohnt in Schutzkleidung tätig zu sein und sie wurden in Schichten eingeteilt, um die Betreuung im Falle einer Infektion aufrechterhalten zu können. Bewohner oder Wohngruppen wurden isoliert. Teilweise ordneten die erfahrenen Pflegekräfte auch Umkehrisolationen an. Dabei wurden die gesunden Bewohner isoliert und die Erkrankten durften das Stockwerk frei betreten. „Ein dementer Bewohner kann die Zimmerquarantäne nicht immer umsetzen, weil er es nicht versteht“, zeigt Wohnbereichsleiterin Diana Prinz eine weitere Herausforderung auf und ergänzt: „Die gesunden Bewohner sind dadurch bis heute gesund geblieben. Das macht die Mitarbeiter schon stolz.“
Dennoch infizieren sich zu dieser Zeit immer mehr Bewohner – und auch Mitarbeiter, die dann zuhause bleiben müssen. „Da hatten sie sehr schwer mit sich selbst zu kämpfen. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie das Gefühl hatten, die anderen im Stich zu lassen“, sagt Prinz. Deck bekräftigt das. Sie erkrankte selbst an Corona. „Man weiß, dass jetzt jede Hand gebraucht wird und dann sitzt man daheim“, beschreibt Deck die strapazierende Heimquarantäne und die belastenden Gedanken. Gleichwohl erfährt sie Aufmunterung
aus dem Kollegenkreis. Etliche Nachrichten nehmen ihr das schlechte Gewissen. „Ich habe mich aufgehoben gefühlt wie in einer Familie.“
Zusätzlich wird den betroffenen Mitarbeitern psychologische Hilfe angeboten. Ein Psychologe gibt den Pflegern Tipps, wie sie ihre Kräfte trotz Corona wieder etwas auftanken können. Da kam die Unterstützung der Bundeswehrsoldaten im Dezember zur richtigen Zeit. „Sie haben uns jetzt nicht massenhaft Arbeit abgenommen, aber allein zu wissen, dass da jemand hilft, war großartig“, so Haug, der die Leistung seiner Mitarbeiter immer wieder würdigt und ihren Willen, Durchhaltevermögen und Leidenschaft am Beruf lobt. „Im Nachgang kann man sagen, dass alle Tolles geleistet haben und im Team etwas entstanden ist, das bleibt. Schließlich gab es Tage, an denen man emotional angeschlagen war. Aber im Team hat man sich getragen gefühlt.“Das bestätigt auch Pflegedienstleiter Julian Reuschel, der eine „noch stärker zusammengeschweißte Mannschaft“bei der Arbeit erlebt hat. Der Zusammenhalt im Team, aber auch im gesamten Spital, hat durch die Krise eine neue Ebene erreicht. Die Beziehungen untereinander sind noch stärker geworden, wie Reuschel erklärt.
Für die Führungsriege gab es umso schwierigere Entscheidungen zu treffen. Die immer wiederkehrende Frage lautete: Welche Mitarbeiter werden im von Corona betroffenen Bereich eingesetzt. Die Alleinerziehende? Die Älteren? Die Jüngeren? Der Familienvater? Keine einfache Aufgabe, zumal auch im Spital Mitarbeiter schwere bis kritische Verläufe durchleben mussten. An Weihnachten sorgte dann ein Überraschungspaket von den Angehörigen für Motivation. „Das hat uns als Team geholfen. Da wussten wir, unsere Arbeit wird anerkannt und das hat uns nochmal motiviert“, berichtet Prinz.
Die Arbeitsbelastung ist trotzdem für alle Mitarbeiter sehr hoch. Die Führungsetage bemüht sich um flexible Dienstpläne, die die Ausfälle bestmöglich kompensieren. „Das war schon eine riesen Herausforderung, weil sich beinahe täglich etwas geändert hat“, berichtet Wohnbereichsleiterin Nadine Hertkorn. Ihr Wohnbereich blieb lange ohne Corona-fall. Doch als dann nach der ersten Impfung die ersten Fälle auftreten, „war das für uns schon richtig herb“. Mithilfe der Erfahrungswerte der Kollegen gelingt es, die große Virusausbreitung zu verhindern. Und da die Bewohner bereits die erste Corona-impfung hinter sich hatten, fielen die Verläufe deutlich milder aus, wie Hertkorn hervorhebt.
Die Spital-verantwortlichen waren in den vergangenen Monaten dauernd um kreative Lösungsansätze bemüht und mussten schnelle Entscheidungen treffen. Rückhalt erhielten sie dabei stets von der Stadtverwaltung, die den Experten freie Hand ließ. So mussten zwischenzeitlich kurzfristig ein Trockner und eine Waschmaschine ausgetauscht werden. Auch die Beschaffung und Anwendung der Schnelltests musste geregelt werden – bis Mai werden dafür alleine 70 000 Euro ausgeben sein. Das übernimmt allerdings der Staat.
Wie das Virus den Weg ins Spital finden konnte, bleibt für die Verantwortlichen ein Rätsel. Denn schon früh, noch vor der eigentlichen Verordnung, wurde im Spital mit den Corona-schnelltests begonnen. Und bis heute werden die Mitarbeiter noch täglich getestet.
Das Resümee nach einem Jahr Corona und der herbeigesehnten zweiten Impfung fällt gedrückt aus. Obgleich das Spital im Vergleich gut durch die Krise gekommen ist, hat das Virus bei Bewohnern Narben hinterlassen und so manchen Mitarbeiter an die Belastungsgrenze gebracht. „Einzelne Mitarbeiter haben einen hohen Preis bezahlt, sind gesundheitlich angeschlagen und nicht mehr so belastbar wie früher“, skizziert Haug die Langzeitfolgen des Virus, und weiter: „Es gab Tage, da hat man sich einfach nur leer und ausgepowert gefühlt“, so Haug.
Jedes Gespräch, in dem den Bewohnern die Nachricht der positiven Testung überbracht werden musste, war eine Belastung. Mit viel Empathie und Fachkenntnis bemühten sich die Pfleger um eine entspannte Situation. „Wir sind auf die Individualität jedes Einzelnen eingegangen – und Musik ist auch ein guter Triggerpunkt“, berichtet Prinz. Das gemeinsame Lachen war in dieser Zeit wohl wichtiger denn je.
Mehrere Bewohner sind an oder mit Corona verstorben. Und eben jener öffentliche Umgang mit dem Tod hat für weiteres Kräftezehren gesorgt. „In der Presse werden wir als Schuldige dargestellt. Dabei wird in Heimen immer gestorben – auch ohne Corona. Diese öffentliche Darstellung hat uns schon gefrustet“, sagt Prinz und Reuschel ergänzt, dass das Berufsbild des Pflegers dadurch weiter negativ besetzt worden sei – „obwohl Pfleger ein toller Beruf ist“. Der gelernte Altenpfleger schätzt die Nähe zu den zu Pflegenden und die starken Bindungen, die entstehen.
Die zweite Impfung vor Kurzem hat große Freude im Spital ausgelöst. „Alle haben gestrahlt wie kleine Kinder“, erinnert sich Hertkorn. Seither ist wieder etwas Ruhe ins Pflegeheim eingekehrt, von Alltag kann aber noch lange keine Rede sein. „Wir kehren jetzt die Scherben zusammen“, sagt Haug und nennt als Beispiel den umgenutzten Spitalkeller, der seit gut einem Jahr als Lagezentrum diente und am 14. März zur Auszählung der Briefwahlstimmen zur Landtagswahl wieder hergerichtet sein soll.
Nun hoffen die Verantwortlichen darauf, dass der Alltag wieder einzieht und die Politik den Pflegeheimen eine Ruhezeit gewährt. Denn zu all dem Corona-management kam im vergangenen Jahr auch noch die Lieferung von Qualitätsdaten an die Datensammelstelle hinzu. Inmitten der zweiten Welle musste die Führungsriege zusätzliche, neue Arbeit leisten. „Wir würden uns wünschen, jetzt einfach mal sechs Monate von der Politik in Ruhe gelassen zu werden, um in den geregelten Arbeitsmodus zurückfinden zu können“, formuliert die stellvertretende Leiterin einen verständlichen Appell an die politischen Entscheidungsträger.
„Es gab Tage, an denen man emotional angeschlagen war. Aber im Team hat man sich getragen gefühlt.“
Spitalleiter Roland Haug