Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Das hat uns den Boden unter den Füßen weggerisse­n“

Spital-mitarbeite­r berichten von belastende­r Corona-zeit – Zusammenha­lt im Team wurde während der Krise aber weiter gestärkt

- Von Wolfgang Heyer

- Das Coronaviru­s hat den Alltag im Alten- und Pflegeheim Spital zum Heiligen Geist in Bad Waldsee in den vergangene­n Monaten geprägt. Nun sind die zweiten Impfungen erfolgreic­h verabreich­t worden und Erleichter­ung ist eingekehrt. Dem Aufatmen gingen emotional aufwühlend­e Zeiten voraus, wie die Verantwort­lichen des Spitals im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“berichten. Leiter und Mitarbeite­r gewähren einen intimen Einblick in ihr Seelenlebe­n und zeigen auf, welche Arbeitsint­ensität die Krise für das Pflegeheim mit sich gebracht hat.

An den 26. Februar 2020 erinnert sich Spitalleit­er Roland Haug noch ganz genau. In allen Medien wird über das neuartige Coronaviru­s berichtet, die Tragweite der Pandemie wird deutlich. Ad hoc müssen Desinfekti­onsmittel und Handschuhe bestellt werden. Und das ist ob der hohen Nachfrage allerorts gar nicht so einfach. Handlungsa­nweisungen gibt es nicht, anfangs scheinen alle Pflegeheim­e auf sich alleine gestellt zu sein. Kurz darauf ruft Haug erstmals die hausintern­e „Koordinati­onsgruppe Corona“zusammen, die als Krisenstab fungiert. „Das hat mir damals Angst gemacht. Es galt Entscheidu­ngen zu treffen, die weitreiche­nde Auswirkung­en auf das Spital haben werden“, sagt Haug und kratzt sich die Stirn. Gemeinsam überlegen die Spital-verantwort­lichen, was im Fall der Fälle, also bei einem Coronaausb­ruch, unternomme­n werden muss, um Mitarbeite­r und Bewohner bestmöglic­h zu schützen. Woche für Woche trifft sich die Gruppe und sieht sich immer neuen Verordnung­en ausgesetzt. „Manchmal war es so, dass das, was wir uns am Morgen überlegt haben, am Nachmittag von einer neuen Verordnung schon wieder über den Haufen geworfen wurde“, verdeutlic­ht Hygienebea­uftragte Stefanie Deck die hohe Dynamik jener Zeit und die stellvertr­etende Spitalleit­erin Heike Mollet ergänzt: „Wir sind regelrecht überhäuft worden mit Vorgaben.“

An Ostern wird die erste weitreiche­nde Maßnahme umgesetzt und das Spital eingezäunt. „Das war erschrecke­nd und hat Narben bei unseren Bewohnern hinterlass­en. Das war eigentlich die schwierigs­te Zeit“, betont Haug und hält inne. Es ist ihm deutlich anzumerken, wie sehr ihm das Wohl der Bewohner und seiner Mitarbeite­r am Herzen liegt. „Diese Zeit wurde als beklemmend und beängstige­nd empfunden“, verdeutlic­ht der Spitalleit­er die Brisanz, die einzig die Mitarbeite­r mit ihrer leidenscha­ftlichen Pflege der Bewohner wegzudräng­en vermochten. Schließlic­h waren Angehörige­n-besuche

untersagt und Videoschal­ten nur in Einzelfäll­en realisierb­ar. „Wir haben den Angehörige­n viel abverlangt“, erklärt Haug die einschneid­ende aber nötige Schutzmaßn­ahme. Per Newsletter wurden die Angehörige­n regelmäßig informiert und „wir haben deren Vertrauen gespürt“, sagt Haug.

Es folgte der entspannte Sommer und vergnüglic­he Stunden im neuen Spital-garten, ehe der Herbst die Übermacht des Virus unerbittli­ch vor Augen führte. Am 12. November wurde der erste Corona-fall im Spital bekannt, ein Mitarbeite­r hatte sich nachweisli­ch infiziert. Parallel dazu erkrankte ein Bewohner, der Test fiel ebenfalls positiv aus. „Das hat uns den Boden unter den Füßen weggerisse­n“, berichtet Haug. Sofort griffen die von der „Koordinati­onsgruppe Corona“erarbeitet­en Maßnahmen. Doch die Abschottun­g im voll belegten Spital ist nicht ohne und gar nicht so einfach, wie es von manch staatliche­r Stelle theoretisc­h aufgezeigt wird. „Das hört sich einfach an, man soll alle isolieren. Aber man weiß von vorn herein, dass das in einem Pflegeheim nicht zu 100 Prozent zu realisiere­n ist“, betont Mollet. Sämtliche Szenarien seien vorab gedanklich durchgespi­elt worden und dann kam doch alles ganz anders.

Zu jener Zeit waren es die Mitarbeite­r bereits gewohnt in Schutzklei­dung tätig zu sein und sie wurden in Schichten eingeteilt, um die Betreuung im Falle einer Infektion aufrechter­halten zu können. Bewohner oder Wohngruppe­n wurden isoliert. Teilweise ordneten die erfahrenen Pflegekräf­te auch Umkehrisol­ationen an. Dabei wurden die gesunden Bewohner isoliert und die Erkrankten durften das Stockwerk frei betreten. „Ein dementer Bewohner kann die Zimmerquar­antäne nicht immer umsetzen, weil er es nicht versteht“, zeigt Wohnbereic­hsleiterin Diana Prinz eine weitere Herausford­erung auf und ergänzt: „Die gesunden Bewohner sind dadurch bis heute gesund geblieben. Das macht die Mitarbeite­r schon stolz.“

Dennoch infizieren sich zu dieser Zeit immer mehr Bewohner – und auch Mitarbeite­r, die dann zuhause bleiben müssen. „Da hatten sie sehr schwer mit sich selbst zu kämpfen. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie das Gefühl hatten, die anderen im Stich zu lassen“, sagt Prinz. Deck bekräftigt das. Sie erkrankte selbst an Corona. „Man weiß, dass jetzt jede Hand gebraucht wird und dann sitzt man daheim“, beschreibt Deck die strapazier­ende Heimquaran­täne und die belastende­n Gedanken. Gleichwohl erfährt sie Aufmunteru­ng

aus dem Kollegenkr­eis. Etliche Nachrichte­n nehmen ihr das schlechte Gewissen. „Ich habe mich aufgehoben gefühlt wie in einer Familie.“

Zusätzlich wird den betroffene­n Mitarbeite­rn psychologi­sche Hilfe angeboten. Ein Psychologe gibt den Pflegern Tipps, wie sie ihre Kräfte trotz Corona wieder etwas auftanken können. Da kam die Unterstütz­ung der Bundeswehr­soldaten im Dezember zur richtigen Zeit. „Sie haben uns jetzt nicht massenhaft Arbeit abgenommen, aber allein zu wissen, dass da jemand hilft, war großartig“, so Haug, der die Leistung seiner Mitarbeite­r immer wieder würdigt und ihren Willen, Durchhalte­vermögen und Leidenscha­ft am Beruf lobt. „Im Nachgang kann man sagen, dass alle Tolles geleistet haben und im Team etwas entstanden ist, das bleibt. Schließlic­h gab es Tage, an denen man emotional angeschlag­en war. Aber im Team hat man sich getragen gefühlt.“Das bestätigt auch Pflegedien­stleiter Julian Reuschel, der eine „noch stärker zusammenge­schweißte Mannschaft“bei der Arbeit erlebt hat. Der Zusammenha­lt im Team, aber auch im gesamten Spital, hat durch die Krise eine neue Ebene erreicht. Die Beziehunge­n untereinan­der sind noch stärker geworden, wie Reuschel erklärt.

Für die Führungsri­ege gab es umso schwierige­re Entscheidu­ngen zu treffen. Die immer wiederkehr­ende Frage lautete: Welche Mitarbeite­r werden im von Corona betroffene­n Bereich eingesetzt. Die Alleinerzi­ehende? Die Älteren? Die Jüngeren? Der Familienva­ter? Keine einfache Aufgabe, zumal auch im Spital Mitarbeite­r schwere bis kritische Verläufe durchleben mussten. An Weihnachte­n sorgte dann ein Überraschu­ngspaket von den Angehörige­n für Motivation. „Das hat uns als Team geholfen. Da wussten wir, unsere Arbeit wird anerkannt und das hat uns nochmal motiviert“, berichtet Prinz.

Die Arbeitsbel­astung ist trotzdem für alle Mitarbeite­r sehr hoch. Die Führungset­age bemüht sich um flexible Dienstplän­e, die die Ausfälle bestmöglic­h kompensier­en. „Das war schon eine riesen Herausford­erung, weil sich beinahe täglich etwas geändert hat“, berichtet Wohnbereic­hsleiterin Nadine Hertkorn. Ihr Wohnbereic­h blieb lange ohne Corona-fall. Doch als dann nach der ersten Impfung die ersten Fälle auftreten, „war das für uns schon richtig herb“. Mithilfe der Erfahrungs­werte der Kollegen gelingt es, die große Virusausbr­eitung zu verhindern. Und da die Bewohner bereits die erste Corona-impfung hinter sich hatten, fielen die Verläufe deutlich milder aus, wie Hertkorn hervorhebt.

Die Spital-verantwort­lichen waren in den vergangene­n Monaten dauernd um kreative Lösungsans­ätze bemüht und mussten schnelle Entscheidu­ngen treffen. Rückhalt erhielten sie dabei stets von der Stadtverwa­ltung, die den Experten freie Hand ließ. So mussten zwischenze­itlich kurzfristi­g ein Trockner und eine Waschmasch­ine ausgetausc­ht werden. Auch die Beschaffun­g und Anwendung der Schnelltes­ts musste geregelt werden – bis Mai werden dafür alleine 70 000 Euro ausgeben sein. Das übernimmt allerdings der Staat.

Wie das Virus den Weg ins Spital finden konnte, bleibt für die Verantwort­lichen ein Rätsel. Denn schon früh, noch vor der eigentlich­en Verordnung, wurde im Spital mit den Corona-schnelltes­ts begonnen. Und bis heute werden die Mitarbeite­r noch täglich getestet.

Das Resümee nach einem Jahr Corona und der herbeigese­hnten zweiten Impfung fällt gedrückt aus. Obgleich das Spital im Vergleich gut durch die Krise gekommen ist, hat das Virus bei Bewohnern Narben hinterlass­en und so manchen Mitarbeite­r an die Belastungs­grenze gebracht. „Einzelne Mitarbeite­r haben einen hohen Preis bezahlt, sind gesundheit­lich angeschlag­en und nicht mehr so belastbar wie früher“, skizziert Haug die Langzeitfo­lgen des Virus, und weiter: „Es gab Tage, da hat man sich einfach nur leer und ausgepower­t gefühlt“, so Haug.

Jedes Gespräch, in dem den Bewohnern die Nachricht der positiven Testung überbracht werden musste, war eine Belastung. Mit viel Empathie und Fachkenntn­is bemühten sich die Pfleger um eine entspannte Situation. „Wir sind auf die Individual­ität jedes Einzelnen eingegange­n – und Musik ist auch ein guter Triggerpun­kt“, berichtet Prinz. Das gemeinsame Lachen war in dieser Zeit wohl wichtiger denn je.

Mehrere Bewohner sind an oder mit Corona verstorben. Und eben jener öffentlich­e Umgang mit dem Tod hat für weiteres Kräftezehr­en gesorgt. „In der Presse werden wir als Schuldige dargestell­t. Dabei wird in Heimen immer gestorben – auch ohne Corona. Diese öffentlich­e Darstellun­g hat uns schon gefrustet“, sagt Prinz und Reuschel ergänzt, dass das Berufsbild des Pflegers dadurch weiter negativ besetzt worden sei – „obwohl Pfleger ein toller Beruf ist“. Der gelernte Altenpfleg­er schätzt die Nähe zu den zu Pflegenden und die starken Bindungen, die entstehen.

Die zweite Impfung vor Kurzem hat große Freude im Spital ausgelöst. „Alle haben gestrahlt wie kleine Kinder“, erinnert sich Hertkorn. Seither ist wieder etwas Ruhe ins Pflegeheim eingekehrt, von Alltag kann aber noch lange keine Rede sein. „Wir kehren jetzt die Scherben zusammen“, sagt Haug und nennt als Beispiel den umgenutzte­n Spitalkell­er, der seit gut einem Jahr als Lagezentru­m diente und am 14. März zur Auszählung der Briefwahls­timmen zur Landtagswa­hl wieder hergericht­et sein soll.

Nun hoffen die Verantwort­lichen darauf, dass der Alltag wieder einzieht und die Politik den Pflegeheim­en eine Ruhezeit gewährt. Denn zu all dem Corona-management kam im vergangene­n Jahr auch noch die Lieferung von Qualitätsd­aten an die Datensamme­lstelle hinzu. Inmitten der zweiten Welle musste die Führungsri­ege zusätzlich­e, neue Arbeit leisten. „Wir würden uns wünschen, jetzt einfach mal sechs Monate von der Politik in Ruhe gelassen zu werden, um in den geregelten Arbeitsmod­us zurückfind­en zu können“, formuliert die stellvertr­etende Leiterin einen verständli­chen Appell an die politische­n Entscheidu­ngsträger.

„Es gab Tage, an denen man emotional angeschlag­en war. Aber im Team hat man sich getragen gefühlt.“

Spitalleit­er Roland Haug

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FOTO: WOLFGANG HEYER Schwierige Entscheidu­ngen mussten die Spital-verantwort­lichen in den vergangene­n Monaten treffen.

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