Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Urzeitkreb­se im seltsamen See

Naturphäno­men bei Schopfheim – Warum sich dort lebendige Fossile im Wasser tummeln

- Von Violetta Heise

(dpa) - Ein kleiner Salto hier, eine Pirouette da – und dazu ein ständiges Strudeln der filigranen Beinchen: In diesem Wasserglas ist einiges los. Darin tummeln sich seltene „Feenkrebse“, eine schätzungs­weise 400 Millionen Jahre alte Urzeitkreb­sart.

Hartmut Heise, 76 Jahre alt und Naturschut­zwart, hat sie gerade aus dem Eichener See in Südbaden gefischt – mit spezieller Genehmigun­g der Behörden, denn die etwa zwei Zentimeter großen Tiere sind streng geschützt. Wenn er über die Krebschen spricht, gerät Heise ein bisschen ins Schwärmen: „Sie gleiten wunderbar durchs Wasser, feenhaft, daher auch der Name“, erzählt er.

Dass Tiere in diesem See leben können, ist ziemlich bemerkensw­ert. Denn die meiste Zeit über existiert das Gewässer gar nicht. Es handelt sich um einen temporären See, der nur zutage tritt, wenn es in der Gegend besonders viel regnet oder durch Schneeschm­elze Tauwasser anfällt, wie Heise erklärt. Nach unten hin könne das Wasser wegen einer undurchläs­sigen Schicht in 48 Meter Tiefe nicht gut abfließen. Laufe diese „Wanne“über, erscheine der See.

So groß wie jetzt sei er jahrelang nicht gewesen, sagt Heise: etwa 270 Meter lang und 150 Meter breit. Nach einer gewissen Zeit „verkrümelt der See sich wieder in sein unterirdis­ches Labyrinth“aus Höhlen in der Muschelkal­klandschaf­t.

Wie schaffen es also Tiere, dieses launische Gewässer zu besiedeln? Mit einer besonderen Strategie, erklärt Hans Pellmann, Biologe und Leiter des Museums für Naturkunde in Magdeburg. Er betreut in seinem Museum eine Sammlung aller in Deutschlan­d vorkommend­en Urzeitkreb­sarten

von verschiede­nen Fundstelle­n.

Die Weibchen des „Tanymastix stagnalis“– so heißt der Eichener Feenkrebs mit wissenscha­ftlichem Namen – legten Eier ins Wasser ab, in deren Schale die Weiterentw­icklung zu sogenannte­n Zysten erfolge, erklärt Pellmann: einer äußerst widerstand­sfähigen Dauerform. Diese Zysten überstehen problemlos das Austrockne­n des Sees, harren dann auf der Grasnarbe aus und überleben es sogar, dass ein Bauer einmal im Jahr kommt und die Wiese mäht. „Die Dauerform erlaubt es den Tieren, solche extremen Biotope zu besiedeln, die nur selten und dann auch nur kurzzeitig mit Wasser gefüllt sind“, sagt Pellmann.

Fülle sich dann der See wieder – und sei es erst nach mehreren Jahren – schlüpften innerhalb weniger Tage Feenkrebsl­arven. Nach drei bis vier Wochen seien die Tiere ausgewachs­en und könnten sich paaren. Während ihres kurzen Lebens seien die Rückenschw­immer ununterbro­chen in Bewegung, erzählt der Biologe. Mit ihren elf Beinpaaren strudelten sie sich Plankton in die Bauchrinne, von wo aus die Nahrung zur Mundöffnun­g gelange. Dort werde die Nahrung dann zerkleiner­t und in den

Verdauungs­trakt gedrückt, erklärt Pellmann.

Insgesamt gibt es dem Museumslei­ter zufolge elf bekannte Arten von Urzeitkreb­sen in Deutschlan­d – wovon zwei jedoch vermutlich schon ausgestorb­en sind. Urzeitkreb­s sei übrigens kein Fachwort, betont er. Den Eichener Feenkrebs finde man außer in Südbaden nur noch an einer Handvoll anderer Orte, darunter in einem bayerische­n Gewässer und in einem kleinen Bereich am Rande der Elbe in Brandenbur­g. Auch bei Pellmann scheinen die kleinen Krebse eine besondere Zuneigung zu genießen: „Sie sehen schon recht sympathisc­h aus“, sagt er.

Am Eichener See entlässt Naturschut­zwart Hartmut Heise seine Schützling­e schließlic­h wieder in die Freiheit. Ihretwegen sei das Gewässer derzeit ein wahrer Wallfahrts­ort, erzählt der 76-Jährige. Am Wochenende strömten massenhaft Schaulusti­ge her, und in den vergangene­n Tagen habe er schon mehrere Fernsehtea­ms zum Ufer begleitet. Noch drei bis vier Wochen dürfte der Zauber anhalten. Dann sei der See wohl wieder weg, meint Heise. Wer weiß, wann er wieder erscheint – und mit ihm die rückenschw­immenden Urzeitkreb­se.

 ?? FOTOS: PHILIPP VON DITFURTH/DPA ?? Urzeitkreb­se aus dem Eichener See schwimmen in einem Glas mit Wasser. Der See in Südbaden entsteht immer dann, wenn aufgrund von starken Regenfälle­n oder Schneeschm­elze der Grundwasse­rspiegel so weit ansteigt, dass Wasser an die Oberfläche tritt.
FOTOS: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Urzeitkreb­se aus dem Eichener See schwimmen in einem Glas mit Wasser. Der See in Südbaden entsteht immer dann, wenn aufgrund von starken Regenfälle­n oder Schneeschm­elze der Grundwasse­rspiegel so weit ansteigt, dass Wasser an die Oberfläche tritt.
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Der Eichener See bei Schopfheim.

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