Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Ein grauer Bus darf nie mehr anrollen“
Einprägsame Gedenkstunde in Wilhelmsdorf für 19 Menschen, die vor 80 Jahren in Ns-todeslager überführt wurden
- Eine Gedenkstunde, die unter die Haut ging. So kann die Veranstaltung in coronabedingt kleinem Rahmen zusammengefasst werden, mit der am Mittwochabend an die Deportation von 19 behinderten Menschen vor genau 80 Jahren gedacht wurde. 18 davon starben in Gaskammern als Opfer des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten. Einer von ihnen, Ernst Weiß, kehrte als einziger Überlebender nach Wilhelmsdorf zurück, wo er 2009 starb. 19 Kerzen in Erinnerung an die Opfer wurden unter Glockenschlägen und dem Verlesen der Namen entzündet.
Es war eine dunkle Stunde in der Geschichte der Gemeinde Wilhelmsdorf, als am 24. März 1941 die berüchtigten grauen Busse, Kennzeichen der Ns-euthanasiebehörde T4, vor dem Haus Höchsten an der Zußdorfer Straße hielten, in dem damals die Taubstummenanstalt ihre Heimat hatte. 14 Männer und fünf Frauen mit Behinderungen mussten einsteigen. Die Jüngste war Maria Bayer, gerade 13 Jahre alt. Nur Ernst Weiß kehrte zurück. Alle anderen fielen dem Euthanasieprogramm zum Opfer. Sie starben in der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg (Hessen).
Den 80. Jahrestag nahm das Wilhelmsdorfer Sozialunternehmen Die Zieglerschen zum Anlass, sich zurück zu erinnern. Aber auch klare Ansagen zu machen, dass sich solche Aktionen nie mehr wiederholen dürfen. In den 1930er-jahren ist Wilhelmsdorf geprägt durch die diakonische Arbeit in den „Zieglerschen Anstalten“. In der „Taubstummenanstalt“werden „normalbegabte“und „schwachsinnige“Taubstumme betreut. Deren damaliger Leiter, Hausvater Heinrich Hermann, ist es zu verdanken, dass nicht noch mehr seiner Betreuten deportiert wurden. Durch sein mutiges Handeln wurden vermutlich viele weitere Menschen mit Behinderungen vor dem Tod bewahrt.
Im großen Hof am Haus Höchsten richtete Pfarrer Gottfried Heinzmann, Vorstandsvorsitzender der Zieglerschen, den Blick zurück in eine schwarze Vergangenheit. Besonders hob Heinzmann die Rolle von Hausvater Herrmann hervor. Dabei sparte er auch nicht an kritischen Bemerkungen bezüglich der fehlenden Unterstützung durch dessen Vorgesetzten der Zieglerschen Anstalten und des diakonischen Dachverbands. „Wir wissen nur, dass Hausvater Herrmann nach außen allein gekämpft hat.“Gekämpft um das Leben
seiner Schützlinge. 80 Jahre später sagt Gottfried Heinzmann: „Es schmerzt mich persönlich, dass Herrmann keine Unterstützung erfahren hat.“Damit sich solche Untaten nie mehr wiederholen können, müsse das Gedenken wach gehalten werden. Wörtlich sagte Heinzmann: „Wir müssen wachsam bleiben in unserer Zeit. Damit wir wachsam die versteckten und offenen ideologischen Botschaften heute wahrnehmen und uns eine Empfindsamkeit dafür bewahren, wenn grundlegende Werte nach und nach hinterfragt werden.“
Wilhelmdorfs Bürgermeisterin Sandra Flucht fragte in ihrem Grußwort danach, wer denn perfekt sei und wer das Recht habe, dies zu beurteilen. Sie sprach den Nationalsozialisten vor 80 Jahren ganz klar das
Recht ab, sich ein Urteil über Menschen zu erlauben, die sie gar nicht kannten, höchstens dem Papier nach. „Wie wunderbar wäre es, wenn es uns gelänge, dass jeder Mensch so viel Selbstwert, Zuneigung und Anerkennung erfährt, dass er es nicht nötig hat, über den Wert eines anderen zu urteilen, auf andere Menschen herabzuschauen, sie als Versager abzustempeln oder schlicht Unmenschliches zu erwarten – nämlich Perfektion.“Ein grauer Bus dürfe nie wieder in Wilhelmsdorf anrollen, so ihre Botschaft.
Im Rahmen der Liturgie fand Pfarrer Ernest Ahlfeld eindeutige und nachdenkliche Worte zu den Geschehnissen 1941. „Wir müssen bekennen, dass unsere Gemeinde und unsere Einrichtungen der Zieglerschen sich damals nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“Anklagend sagte Ahlfeld weiter: „Menschen, denen hier in Wilhelmsdorf Schutz und Heimat versprochen war, wurden an ein unmenschliches Regime ausgeliefert und allein gelassen.“Ebenso eindringlich rief Ernest Ahlfeld aus: „Herr, vergib unserem Dorf, unserer Gemeinde, unseren Einrichtungen diese Schuld von damals, um Jesus Christi willen!“
Während der Gedenkstunde wurden durch Ursula Rüstig, Leiterin des Seniorenbereichs bei den Zieglerschen, 19 Kerzen mit den Namen der Deportierten entzündet. Diese waren von Menschen mit Behinderung gestaltet worden. 19 Glockenschläge begleiteten das Entzünden der Kerzen. Die Namen der Deportierten verlas dazu Uwe Fischer, Geschäftsführer der Behindertenhilfe der Zieglerschen. Abschließend wurden die 19 Kerzen in einer kleinen Prozession zur Gedenktafel vor dem Haus Höchsten getragen und dort unter der Treppe aufgestellt.
Um das Gedenken an die Geschehnisse des März 1941 wach zu halten, haben die Zieglerschen mit der Homepage www.zieglersche.de/deportation-und-gedenken einen digitalen Erinnerungsraum geschaffen. Am Sonntag, 28. März, um 10.30 Uhr, wird der Deportation auch im Rahmen eines Gottesdienstes im Betsaal der Wilhelmsdorfer Brüdergemeinde gedacht. Die Predigt wird Pfarrer Gottfried Heinzmann halten. Der Gottesdienst wird aufgrund der Coronasituation auch im Internet übertragen: youtube.com/ watch?v=hpnrnmq9nic