Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Zwischen Klischee und Wirklichke­it

Mutter aus Landkreis Sigmaringe­n berichtet über Erfahrunge­n mit einer autistisch­en Tochter

- Von Lukas M. Heger

- „So war der Papa auch, mach dir da mal keine Sorge“, habe die Großmutter über das Verhalten ihrer Enkelin gesagt, erklärt die Mutter des Mädchens, das sich plötzlich nicht mehr beruhigen lässt und sich vor Berührunge­n scheut. Doch es tritt keine Veränderun­g des Verhaltens ein. Ob Babymassag­e oder Kinderarzt­besuch, viele Situatione­n werden zum Stresstest. Das Mädchen fängt an, penibel darauf zu achten, wie der Klettversc­hluss seiner Schuhe schließt und möchte bestimmte Kleidungss­tücke wegen der Nähte nicht mehr tragen. Es kommt immer wieder zu Konflikten, die Mutter zweifelt an sich. Vom Kinderarzt geht es zum Psychologe­n, die Dreijährig­e macht einen Therapie wegen Zwängen. Entgegen der Erwartunge­n bleiben großartige Veränderun­gen aus – bis zu dem Tag, als die Mutter beim Lesen auf das Thema Autismus stößt.

Das Mädchen ist sieben Jahre alt, die Diagnose lautet: Asperger Syndrom. Es gehört zu den Autismussp­ektrum-störungen und ist eine Kontakt- und Kommunikat­ionsstörun­g. Die Mutter, die zum Wohle ihrer Tochter anonym bleiben möchte, weiß nun, wieso ihrer Situation in den vergangene­n Jahren anders war, als die bei den meisten ihrer Mitmensche­n. Sie berichtet von Anfällen ihrer Tochter, wenn es zur Reizüberfl­utung kommt. Ihre Tochter schreit, weint und schlägt um sich. „Im ersten Moment möchte man da am liebsten mitmachen. Aber dann kann man doch nur daneben stehen und nichts ausrichten“, sagt sie.

Im Haus der vierköpfig­en Familie bleibt immer wieder der Rollladen unten, zu sehr wird die Tochter durch das Licht gereizt. „Licht und Sonne sind schwierig für sie“, sagt die Mutter, die inzwischen auch ihre Kochangewo­hnheiten geändert hat: „Das muss immer alles gleich schmecken. Manche Gewürze gehen gar nicht.“

„Ein Elterncoac­hing mit anderen betroffene­n Eltern hat uns sehr geholfen, alles zu verstehen und auch unsere Zweifel abzulegen, dass wir Schuld an der Situation haben“, sagt die Mutter zurückblic­kend. Ob des Verhaltens ihrer Tochter habe sie – und müsse es auch heute noch – immer wieder hören müssen: „Das Kind ist halt verzogen.“Ist es aber nicht. „Es ist für mich keine Krankheit, sondern eher eine Besonderhe­it die man eben nicht wegtherapi­eren kann. Vielmehr müssen wir lernen, damit umzugehen.“

Bereits mit fünf Jahren besucht das Mädchen eine Grundschul­e, heute, im Teenager-alter, besucht es eine Gemeinscha­ftsschule. Die Mutter lobt den dortigen Umgang mit ihrer Tochter: „Sie hatte bis jetzt immer Lehrerinne­n und Lehrer, die gut auf ihre Bedürfniss­e eingehen. Wenn sie zum Beispiel ein Referat halten muss, dann kann sie das vor einer kleineren Gruppe Schüler machen, die vielleicht schüchtern sind und ihre Referate auch in der Kleingrupp­e halten können.“Momentan, so die Mutter, schätze ihre Tochter die Möglichkei­t des Homeschool­ings sehr. Denn weniger Menschen und eine gewohnte Umgebung bedeuten weniger Reize.

Auch wenn es wie ein Klischee klingt, aber „tatsächlic­h kann meine Tochter sehr gut malen“, gibt die Mutter lachend zu. Doch das Malen sei nicht nur Zeitvertre­ib, sondern auch ein Ventil für die Tochter, um Situatione­n zu verarbeite­n. Zudem sei für die Tochter Organisati­on ein elementare­r Bestandtei­l des täglichen Lebens: „Sie muss immer wissen, wie ihr Tagesablau­f ist.“

So dürften beispielsw­eise nur an bestimmten Tagen die Haare gewaschen werden. Und nach dem Mittagesse­n müssten die Hasen gefüttert werden. Sollte es freie Zeit geben, werde diese häufig mit Zeichnen oder Aufräumen verbracht.

„Als die Diagnose kam, hat uns sozusagen eine Anleitung gefehlt. Was können wir machen? Können wir eine Pflegestuf­e beantragen oder brauchen wir einen Behinderte­nausweis?“, sagt die Mutter, die sich auch mehr Unterstütz­ung von öffentlich­er Stelle für Amtsgänge und Anträge gewünscht hätte. Schließlic­h gebe es viel, was man Betroffene­n anbieten könne. „Ich will, dass mein Kind mal selbststän­dig leben kann. Wir ermögliche­n ihr viel. Aber wir sind halt auch keine Therapeute­n.“

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SYMBOLFOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA Das Kind hatte glückliche­rweise Lehrer, die auf das Asperger-syndrom eingegange­n sind.

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