Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Zwischen Klischee und Wirklichkeit
Mutter aus Landkreis Sigmaringen berichtet über Erfahrungen mit einer autistischen Tochter
- „So war der Papa auch, mach dir da mal keine Sorge“, habe die Großmutter über das Verhalten ihrer Enkelin gesagt, erklärt die Mutter des Mädchens, das sich plötzlich nicht mehr beruhigen lässt und sich vor Berührungen scheut. Doch es tritt keine Veränderung des Verhaltens ein. Ob Babymassage oder Kinderarztbesuch, viele Situationen werden zum Stresstest. Das Mädchen fängt an, penibel darauf zu achten, wie der Klettverschluss seiner Schuhe schließt und möchte bestimmte Kleidungsstücke wegen der Nähte nicht mehr tragen. Es kommt immer wieder zu Konflikten, die Mutter zweifelt an sich. Vom Kinderarzt geht es zum Psychologen, die Dreijährige macht einen Therapie wegen Zwängen. Entgegen der Erwartungen bleiben großartige Veränderungen aus – bis zu dem Tag, als die Mutter beim Lesen auf das Thema Autismus stößt.
Das Mädchen ist sieben Jahre alt, die Diagnose lautet: Asperger Syndrom. Es gehört zu den Autismusspektrum-störungen und ist eine Kontakt- und Kommunikationsstörung. Die Mutter, die zum Wohle ihrer Tochter anonym bleiben möchte, weiß nun, wieso ihrer Situation in den vergangenen Jahren anders war, als die bei den meisten ihrer Mitmenschen. Sie berichtet von Anfällen ihrer Tochter, wenn es zur Reizüberflutung kommt. Ihre Tochter schreit, weint und schlägt um sich. „Im ersten Moment möchte man da am liebsten mitmachen. Aber dann kann man doch nur daneben stehen und nichts ausrichten“, sagt sie.
Im Haus der vierköpfigen Familie bleibt immer wieder der Rollladen unten, zu sehr wird die Tochter durch das Licht gereizt. „Licht und Sonne sind schwierig für sie“, sagt die Mutter, die inzwischen auch ihre Kochangewohnheiten geändert hat: „Das muss immer alles gleich schmecken. Manche Gewürze gehen gar nicht.“
„Ein Elterncoaching mit anderen betroffenen Eltern hat uns sehr geholfen, alles zu verstehen und auch unsere Zweifel abzulegen, dass wir Schuld an der Situation haben“, sagt die Mutter zurückblickend. Ob des Verhaltens ihrer Tochter habe sie – und müsse es auch heute noch – immer wieder hören müssen: „Das Kind ist halt verzogen.“Ist es aber nicht. „Es ist für mich keine Krankheit, sondern eher eine Besonderheit die man eben nicht wegtherapieren kann. Vielmehr müssen wir lernen, damit umzugehen.“
Bereits mit fünf Jahren besucht das Mädchen eine Grundschule, heute, im Teenager-alter, besucht es eine Gemeinschaftsschule. Die Mutter lobt den dortigen Umgang mit ihrer Tochter: „Sie hatte bis jetzt immer Lehrerinnen und Lehrer, die gut auf ihre Bedürfnisse eingehen. Wenn sie zum Beispiel ein Referat halten muss, dann kann sie das vor einer kleineren Gruppe Schüler machen, die vielleicht schüchtern sind und ihre Referate auch in der Kleingruppe halten können.“Momentan, so die Mutter, schätze ihre Tochter die Möglichkeit des Homeschoolings sehr. Denn weniger Menschen und eine gewohnte Umgebung bedeuten weniger Reize.
Auch wenn es wie ein Klischee klingt, aber „tatsächlich kann meine Tochter sehr gut malen“, gibt die Mutter lachend zu. Doch das Malen sei nicht nur Zeitvertreib, sondern auch ein Ventil für die Tochter, um Situationen zu verarbeiten. Zudem sei für die Tochter Organisation ein elementarer Bestandteil des täglichen Lebens: „Sie muss immer wissen, wie ihr Tagesablauf ist.“
So dürften beispielsweise nur an bestimmten Tagen die Haare gewaschen werden. Und nach dem Mittagessen müssten die Hasen gefüttert werden. Sollte es freie Zeit geben, werde diese häufig mit Zeichnen oder Aufräumen verbracht.
„Als die Diagnose kam, hat uns sozusagen eine Anleitung gefehlt. Was können wir machen? Können wir eine Pflegestufe beantragen oder brauchen wir einen Behindertenausweis?“, sagt die Mutter, die sich auch mehr Unterstützung von öffentlicher Stelle für Amtsgänge und Anträge gewünscht hätte. Schließlich gebe es viel, was man Betroffenen anbieten könne. „Ich will, dass mein Kind mal selbstständig leben kann. Wir ermöglichen ihr viel. Aber wir sind halt auch keine Therapeuten.“