Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Wenn das Zuhause zur Gefahr wird
Gewalt gegen Frauen nimmt seit der Corona-pandemie drastisch zu – Was eine 41-Jährige erlebte
- „Es fing schleichend an. Aber über die Jahre hinweg steigerten sich die Gewaltausbrüche meines damaligen Lebensgefährten. Aus festem Zupacken am Arm im Streit wurden gezielte Schläge“, berichtet eine 41-jährige Frau aus dem Kreis Ravensburg. Zu ihrem Schutz möchte sie namentlich nicht genannt werden.
Die häusliche Gewalt eskalierte im Herbst vergangenen Jahres: Er würgte sie. „Ich dachte wirklich, dass ich jetzt sterben muss. Ich hatte Todesangst“, erzählt sie. Sie konnte einen Notruf absetzen. Kurze Zeit später traf die Polizei ein. Die Polizisten nahmen dem Lebensgefährten die Wohnungsschlüssel ab und erteilten ihm einen Platzverweis. Anschließend erhielt die Frau einen Flyer „Frauen helfen Frauen“. „Da saß ich nun in meiner Wohnung, alleine, mit den Nerven völlig am Ende und in den Händen einen Flyer, der bestimmt so alt war wie ich selbst.“Sie habe sich alleine gelassen gefühlt, hilflos, ratlos. Gerne hätte sie mit jemandem gesprochen, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Was ist als nächstes zu tun? Wie läuft eine Anklage eigentlich ab? Auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe stellte sie fest, dass es eine solche im Landkreis Ravensburg nicht gibt. Sie wendet sich ans Landratsamt, denn für sie steht fest: Es muss eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit Gewalterfahrung im Landkreis gegründet werden.
Nach Angaben der Frauenorganisation der Vereinten Nationen UN nimmt häusliche Gewalt seit Beginn der Corona-pandemie weltweit drastisch zu. Dies trifft auch auf den Landkreis Ravensburg zu. Aus dem Jahresbericht 2020 des Vereins „Frauen und Kinder in Not – Hilfe bei Gewalt und Krisen“in Ravensburg geht hervor, dass Frauen im vergangenen Jahr verstärkt Beratung und Schutz ersucht haben. Pandemiebedingt sollen vor allem telefonische Beratungen zugenommen haben. So fanden gemäß dem Jahresbericht insgesamt 820 Beratungsgespräche statt, bei denen 82 Prozent der Frauen als Anlass für das Gespräch häusliche Gewalt angaben. Die Pandemie verlangt derzeit einen verstärkten Rückzug ins familiäre Umfeld. Nicht selten lassen Männer dort ihre Frustration und Ängste durch Aggression und Gewalt an ihren Kindern und/oder Partnerinnen aus. Gewalt kann sich in körperlicher, verbaler, emotionaler, psychischer oder sogar struktureller Form äußern. Häufig kommen mehrere Formen der Gewalt zusammen. Die Betroffenen kommen laut Angaben des Vereins „Frauen und Kinder in Not“aus allen sozialen Schichten mit unterschiedlichen Bildungsgraden und kulturellen Hintergründen.
Sonja Grauberger von der Kontaktstelle für Selbsthilfe beim Landratsamt Ravensburg bestätigt die Situation. Bei ihr gingen in den vergangenen Monaten mehrere Anfragen zur Gründung einer Selbsthilfegruppe für Frauen mit Gewalterfahrung ein. Die Kontaktstelle für Selbsthilfe des Landkreises Ravensburg möchte in der derzeitigen Situation eine Hilfestellung
bieten und die Gründung einer Selbsthilfegruppe unterstützen. Die Selbsthilfegruppe soll Betroffenen dabei helfen, Abhängigkeiten und Isolation zu beenden, Austausch zu schaffen und zur Unterstützung im Alltag dienen. „Ein Austausch mit Frauen, die nahezu das Gleiche erlebt haben oder erleben, kann zur Erkenntnis helfen, die notwendig ist, um sich aus der Beziehung zu lösen. Viele Betroffene empfinden es zudem als erleichternd, anderen Betroffenen von ihren Erfahrungen berichten zu können, denn im persönlichen Umfeld müssen sich die Frauen doch oft rechtfertigen oder stoßen auf Missverständnis, warum nicht schon längst eine Trennung erfolgt ist“, so wurde Grauberger von Betroffenen berichtet. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass eine Selbsthilfegruppe keine psychotherapeutische Begleitung ersetze, diese sei essentiell.
„Da ich schon als Kind von meinen Eltern geschlagen wurde, war es für mich eigentlich normal, dass ich Gewalt auch in meiner Beziehung erfahre“, berichtet die 41-Jährige. Acht Jahre lang sei sie mit ihrem Lebensgefährten zusammen gewesen. Ihre drei Kinder, nicht seine leiblichen, habe er jedoch nie angerührt, das hätte sie zu keiner Zeit akzeptieren können. Abgesehen von seiner Gewaltbereitschaft sei er der perfekte Mann gewesen. „Wenn es wieder einmal eskaliert ist, hat er sich direkt danach bei mir entschuldigt, mir alles versprochen, Reue gezeigt. Ich habe ihm immer wieder geglaubt, weil ich ihn ja liebte.“Auch er habe in seiner Kindheit
Gewalt erfahren, so habe sie in gewisser Weise sogar Verständnis für sein Verhalten aufbringen können.
Die dramatische Situation im Herbst und die erlebte Todesangst habe sie jedoch wachgerüttelt, das sogenannte i-tüpfelchen. „Wenn du gehst, bringe ich dich um“, diese Worte werde sie nie im Leben vergessen. Angst sei seither ihr ständiger Begleiter. Kontakt zum ehemaligen Lebensgefährten bestehe derzeit kaum noch. Sie habe es vorsichtig ausschleichen lassen, da sie befürchtete, ein abrupter Kontaktabbruch würde ihn noch mehr provozieren, seine Androhung wahr zu machen. Aktuell warte sie auf den Prozess, ihr Lebensgefährte ist angeklagt. Sie befinde sich in Therapie, um das Erlebte aufzuarbeiten. „Gewalterfahrung in der Kindheit beeinflusst auch das Leben als Erwachsener, man kann leichter in eine Opferrolle geraten“, da ist sie sich sicher. Durch die Gründung der Selbsthilfegruppe wolle sie anderen Frauen Mut machen, helfen und auch ihr Erlebtes verarbeiten. „Das Ganze soll ja nicht umsonst gewesen sein“, sagt sie.
Die Kontaktstelle für Selbsthilfe des Landkreises Ravensburg sucht zur Gründung einer Selbsthilfegruppe Frauen, die aktuell Gewalt erfahren oder in der Vergangenheit erfahren haben. Betroffene können sich an die Kontaktstelle für Selbsthilfe beim Landratsamt Ravensburg wenden unter Telefon 0751 / 85-3119 oder per E-mail an kontaktstelle-selbsthilfe@rv.de