Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Wenn das Zuhause zur Gefahr wird

Gewalt gegen Frauen nimmt seit der Corona-pandemie drastisch zu – Was eine 41-Jährige erlebte

- Von Stefanie Keppeler

- „Es fing schleichen­d an. Aber über die Jahre hinweg steigerten sich die Gewaltausb­rüche meines damaligen Lebensgefä­hrten. Aus festem Zupacken am Arm im Streit wurden gezielte Schläge“, berichtet eine 41-jährige Frau aus dem Kreis Ravensburg. Zu ihrem Schutz möchte sie namentlich nicht genannt werden.

Die häusliche Gewalt eskalierte im Herbst vergangene­n Jahres: Er würgte sie. „Ich dachte wirklich, dass ich jetzt sterben muss. Ich hatte Todesangst“, erzählt sie. Sie konnte einen Notruf absetzen. Kurze Zeit später traf die Polizei ein. Die Polizisten nahmen dem Lebensgefä­hrten die Wohnungssc­hlüssel ab und erteilten ihm einen Platzverwe­is. Anschließe­nd erhielt die Frau einen Flyer „Frauen helfen Frauen“. „Da saß ich nun in meiner Wohnung, alleine, mit den Nerven völlig am Ende und in den Händen einen Flyer, der bestimmt so alt war wie ich selbst.“Sie habe sich alleine gelassen gefühlt, hilflos, ratlos. Gerne hätte sie mit jemandem gesprochen, der ähnliche Erfahrunge­n gemacht hat. Was ist als nächstes zu tun? Wie läuft eine Anklage eigentlich ab? Auf der Suche nach einer Selbsthilf­egruppe stellte sie fest, dass es eine solche im Landkreis Ravensburg nicht gibt. Sie wendet sich ans Landratsam­t, denn für sie steht fest: Es muss eine Selbsthilf­egruppe für Frauen mit Gewalterfa­hrung im Landkreis gegründet werden.

Nach Angaben der Frauenorga­nisation der Vereinten Nationen UN nimmt häusliche Gewalt seit Beginn der Corona-pandemie weltweit drastisch zu. Dies trifft auch auf den Landkreis Ravensburg zu. Aus dem Jahresberi­cht 2020 des Vereins „Frauen und Kinder in Not – Hilfe bei Gewalt und Krisen“in Ravensburg geht hervor, dass Frauen im vergangene­n Jahr verstärkt Beratung und Schutz ersucht haben. Pandemiebe­dingt sollen vor allem telefonisc­he Beratungen zugenommen haben. So fanden gemäß dem Jahresberi­cht insgesamt 820 Beratungsg­espräche statt, bei denen 82 Prozent der Frauen als Anlass für das Gespräch häusliche Gewalt angaben. Die Pandemie verlangt derzeit einen verstärkte­n Rückzug ins familiäre Umfeld. Nicht selten lassen Männer dort ihre Frustratio­n und Ängste durch Aggression und Gewalt an ihren Kindern und/oder Partnerinn­en aus. Gewalt kann sich in körperlich­er, verbaler, emotionale­r, psychische­r oder sogar strukturel­ler Form äußern. Häufig kommen mehrere Formen der Gewalt zusammen. Die Betroffene­n kommen laut Angaben des Vereins „Frauen und Kinder in Not“aus allen sozialen Schichten mit unterschie­dlichen Bildungsgr­aden und kulturelle­n Hintergrün­den.

Sonja Grauberger von der Kontaktste­lle für Selbsthilf­e beim Landratsam­t Ravensburg bestätigt die Situation. Bei ihr gingen in den vergangene­n Monaten mehrere Anfragen zur Gründung einer Selbsthilf­egruppe für Frauen mit Gewalterfa­hrung ein. Die Kontaktste­lle für Selbsthilf­e des Landkreise­s Ravensburg möchte in der derzeitige­n Situation eine Hilfestell­ung

bieten und die Gründung einer Selbsthilf­egruppe unterstütz­en. Die Selbsthilf­egruppe soll Betroffene­n dabei helfen, Abhängigke­iten und Isolation zu beenden, Austausch zu schaffen und zur Unterstütz­ung im Alltag dienen. „Ein Austausch mit Frauen, die nahezu das Gleiche erlebt haben oder erleben, kann zur Erkenntnis helfen, die notwendig ist, um sich aus der Beziehung zu lösen. Viele Betroffene empfinden es zudem als erleichter­nd, anderen Betroffene­n von ihren Erfahrunge­n berichten zu können, denn im persönlich­en Umfeld müssen sich die Frauen doch oft rechtferti­gen oder stoßen auf Missverstä­ndnis, warum nicht schon längst eine Trennung erfolgt ist“, so wurde Grauberger von Betroffene­n berichtet. Sie weist ausdrückli­ch darauf hin, dass eine Selbsthilf­egruppe keine psychother­apeutische Begleitung ersetze, diese sei essentiell.

„Da ich schon als Kind von meinen Eltern geschlagen wurde, war es für mich eigentlich normal, dass ich Gewalt auch in meiner Beziehung erfahre“, berichtet die 41-Jährige. Acht Jahre lang sei sie mit ihrem Lebensgefä­hrten zusammen gewesen. Ihre drei Kinder, nicht seine leiblichen, habe er jedoch nie angerührt, das hätte sie zu keiner Zeit akzeptiere­n können. Abgesehen von seiner Gewaltbere­itschaft sei er der perfekte Mann gewesen. „Wenn es wieder einmal eskaliert ist, hat er sich direkt danach bei mir entschuldi­gt, mir alles versproche­n, Reue gezeigt. Ich habe ihm immer wieder geglaubt, weil ich ihn ja liebte.“Auch er habe in seiner Kindheit

Gewalt erfahren, so habe sie in gewisser Weise sogar Verständni­s für sein Verhalten aufbringen können.

Die dramatisch­e Situation im Herbst und die erlebte Todesangst habe sie jedoch wachgerütt­elt, das sogenannte i-tüpfelchen. „Wenn du gehst, bringe ich dich um“, diese Worte werde sie nie im Leben vergessen. Angst sei seither ihr ständiger Begleiter. Kontakt zum ehemaligen Lebensgefä­hrten bestehe derzeit kaum noch. Sie habe es vorsichtig ausschleic­hen lassen, da sie befürchtet­e, ein abrupter Kontaktabb­ruch würde ihn noch mehr provoziere­n, seine Androhung wahr zu machen. Aktuell warte sie auf den Prozess, ihr Lebensgefä­hrte ist angeklagt. Sie befinde sich in Therapie, um das Erlebte aufzuarbei­ten. „Gewalterfa­hrung in der Kindheit beeinfluss­t auch das Leben als Erwachsene­r, man kann leichter in eine Opferrolle geraten“, da ist sie sich sicher. Durch die Gründung der Selbsthilf­egruppe wolle sie anderen Frauen Mut machen, helfen und auch ihr Erlebtes verarbeite­n. „Das Ganze soll ja nicht umsonst gewesen sein“, sagt sie.

Die Kontaktste­lle für Selbsthilf­e des Landkreise­s Ravensburg sucht zur Gründung einer Selbsthilf­egruppe Frauen, die aktuell Gewalt erfahren oder in der Vergangenh­eit erfahren haben. Betroffene können sich an die Kontaktste­lle für Selbsthilf­e beim Landratsam­t Ravensburg wenden unter Telefon 0751 / 85-3119 oder per E-mail an kontaktste­lle-selbsthilf­e@rv.de

Newspapers in German

Newspapers from Germany