Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Immer mehr Angriffe auf Andersdenk­ende

Trotz der Corona-beschränku­ngen haben politisch motivierte Gewalttate­n zugenommen

- Von Claudia Kling www.schwaebisc­he.de/straftaten

- Es ist ein Zufall, aber ein bezeichnen­der: Am Dienstagmo­rgen wird der mutmaßlich­e Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschrei­ben festgenomm­en, kurz danach die Nachricht, dass die Zahl rechtsmoti­vierter Straftaten in Deutschlan­d auf dem Höchststan­d ist seit der ersten Erfassung im Jahr 2001. Es gebe „klare Verrohungs­tendenzen“in der Gesellscha­ft, und es sei eine weitere Polarisier­ung der politische­n Diskussion zu beobachten, sagte Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) in Berlin. Von Opferverbä­nden wird allerdings kritisiert, dass viele rechts, rassistisc­h und antisemiti­sch motivierte Gewalttate­n von Strafverfo­lgungsbehö­rden als solche nicht erfasst würden. Die wichtigste­n Daten und Zahlen zum Thema.

Die „NSU 2.0“-Drohschrei­ben und die Polizei

Die Morddrohun­gen, die seit Sommer 2018 unter anderem an die Anwältin Seda Basay-yildiz, an die Linken-politikeri­n Janine Wissler und an die Berliner Kabarettis­tin Idil Baydar gingen, haben auch die Polizei in Hessen in Verruf gebracht. Denn persönlich­e Informatio­nen über die Frauen waren von Polizeicom­putern in Frankfurt und in Wiesbaden abgerufen worden. Eine Erklärung für diesen Vorgang blieb Holger Münch, Präsident des Bundeskrim­inalamtes (BKA), am Dienstag schuldig. Weitere Erkenntnis­se erwartet er von einer Auswertung der Datenträge­r aus der Wohnung des mutmaßlich­en Verfassers der Drohschrei­ben. Der Mann sei am „offenen Rechner“festgenomm­en worden. Seehofer mutmaßte, dass der Tatverdäch­tige durch List und Täuschung an die Polizeidat­en gekommen sein könnte. Bereits bekannt ist, dass der in Berlin festgenomm­ene 53-jährige Deutsche bereits wegen rechtsmoti­vierter Straftaten verurteilt worden ist. Opferverbä­nde bezweifeln allerdings, dass der Mann alleine gehandelt habe. „Wir befürchten, dass uns die Polizei auch hier einen Einzeltäte­r präsentier­en möchte, um somit von der Mitverantw­ortung der hessischen Polizei abzulenken“, sagte Judith Potrath, Vorstand des Verbands der unabhängig­en Opferberat­ungsstelle­n.

Politisch motivierte Straftaten und die Motive dahinter

Diese Zahl treibt Minister Seehofer um: 44 692 politisch motivierte Straftaten wurden im vergangene­n Jahr in Deutschlan­d registrier­t, 8,5 Prozent mehr als 2019. Mehr als die Hälfte dieser Taten (52,8 Prozent) hatten einen rechten Hintergrun­d. Dies entspricht einer Zunahme von 5,8 Prozent. Noch stärker steigt die Kurve bei politisch motivierte­n Gewalttate­n – zum Beispiel bei Körperverl­etzungen und Tötungsdel­ikten. Im Vergleich zu 2019 nahm deren Zahl um 18,8 Prozent auf 3365 zu, bei rechts motivierte­r Gewalt beträgt der Zuwachs knapp elf Prozent. „Der Rechtsterr­orismus ist die größte Bedrohung für die Sicherheit in unserem Land“, sagte Seehofer. Die „hässlichst­e Blutspur“führe vom Amoklauf am Olympiazen­trum in München hin zu den Attentaten in Halle und in Hanau, wo im vergangene­n Jahr neun Menschen durch die Schüsse eines rechten Attentäter­s gestorben sind. Die Zahl der links motivierte­n Gewalttate­n stieg laut Polizei um rund 45 Prozent auf 1526 Delikte. Bei radikalen Linken sei eine

Entwicklun­g „hin zu Gewalttate­n konspirati­v agierender Kleingrupp­en“zu beobachten, sagte Seehofer. Rückläufig waren dagegen Gewaltdeli­kte, die aus religiöser oder wegen einer sogenannte­n ausländisc­hen Ideologie, beispielsw­eise wegen des Kurdenkonf­likts in der Türkei, begangen wurden.

Die Auswirkung­en der Coronapand­emie auf die Statistik

Dass es den Corona-demonstran­ten nicht nur um ihre Grundrecht­e geht, sagte Seehofer sehr deutlich. Bei den Protesten gebe es neue Koalitione­n von Corona-leugnern, Impfgegner­n, Antisemite­n und Rechten. Die Demonstran­ten gefährdete­n das Leben Unbeteilig­ter, so Seehofer. Polizisten und Journalist­en würden angegriffe­n, es komme immer wieder zu erhebliche­n Ausschreit­ungen. Im Zusammenha­ng mit der Corona-pandemie

wurden 3569 Straftaten gemeldet, darunter 478 Gewalttate­n. Von den 260 Straftaten gegen Journalist­en im Jahr 2020 wurden 112 im Zusammenha­ng mit Corona begangen. Diese Gewalttate­n „richten sich gegen unsere freiheitli­che Grundordnu­ng“, so Seehofer. Daher sei es richtig, dass die Verfassung­sschutzbeh­örden insbesonde­re auch die neuen Protestgru­ppen sehr genau in den Blick nehmen.

Mandatsträ­ger als Opfer und Hasskrimin­alität

Wer sich öffentlich engagiert, geht zunehmend ein Risiko ein: 2020 hat es etwa doppelt so viele Angriffe auf Amts- und Mandatsträ­ger gegeben als im Jahr zuvor, so die Statistik. Auch Hasskrimin­alität, das sind Straftaten, die aus „gruppenbez­ogenen Vorurteile­n“resultiere­n, hat deutlich zugenommen – um rund 19 Prozent auf 10 240 Fälle. Am häufigsten werden Ausländer Opfer dieser Form von Kriminalit­ät. Aber auch die Zahl der antisemiti­schen und antizigani­stischen Vorfälle ist weiter gestiegen. 87 Prozent dieser Delikte seien, betonte Seehofer, rechtsextr­em motiviert. Um gegen Beschimpfu­ngen und Drohungen im Netz besser vorgehen zu können, wurde nach Monaten der Verzögerun­g vor Kurzem ein Gesetz gegen Hasskrimin­alität verabschie­det. Der Innenminis­ter sieht darin ein wichtiges Hilfsmitte­l, um den Tätern auf die Spur zu kommen.

Kritik an der Statistik

Vertreter von Opfern politisch motivierte­r Gewalt bemängeln, dass die amtlichen Fallzahlen nicht das wahre Ausmaß der Gewalt abbilden. „Viele rechte Taten werden nicht als solche erkannt“, kritisiert­e Judith Potrath vom Verband der Beratungss­tellen für Betroffene. Auch Benjamin Steinitz vom Bundesverb­and der Rechercheu­nd Informatio­nsstellen Antisemiti­smus (Rias) warf den Behörden vor, nur einen Teil der Angriffe auf Juden in Deutschlan­d zu erfassen. „Nur 20 Prozent der antisemiti­schen Angriffe kommen überhaupt zur Anzeige“, sagte er. Das Dunkelfeld sei sehr viel höher. Dass die Betroffene­n den Gang zur Polizei scheuten, führte er auf einen „Rechtferti­gungsdruck“zurück, unter dem die Opfer von politisch motivierte­r Gewalt bei einer Anzeige stünden. Dies führe zu Frustratio­n und Nichtanzei­gen.

Ein Vergleich zu den politisch motivierte­n Straftaten im Vorjahr sehen Sie auf

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FOTO: ACHILLE ABBOUD/DPA Bei Corona-protesten auf den Stufen vor dem Reichstag waren im Sommer auch zahlreiche Reichsflag­gen zu sehen. Innenminis­ter Seehofer warnt vor neuen Koalitione­n von Corona-leugnern, Rechten und Antisemite­n.

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