Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Eine Kultur des Hinsehens schaffen

Der Sportaussc­huss des Bundestage­s befasst sich mit Gewalt und Missbrauch im Sport

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(dpa) - Die jüngste Botschaft sollte noch einmal wachrüttel­n. Bei der Turn-em in Basel trugen gleich mehrere deutsche Spitzenath­letinnen Ganzkörper­anzüge und protestier­ten damit auch gegen Sexualisie­rung in ihrer Sportart. Am Mittwoch nun beschäftig­t sich der Sportaussc­huss des Bundestage­s in einer öffentlich­en Anhörung mit dem Thema „Physische, psychische oder sexualisie­rte Gewalt gegen Sportlerin­nen und Sportler“. Zehn Namen stehen auf der Liste der Sachverstä­ndigen. Und auch wenn das Ziel alle Beteiligte­n eint, so drohen über den Weg im Kampf gegen Missbrauch Kontrovers­en.

Zahlreiche Athletinne­n und Athleten hatten zuletzt von Fällen berichtet, in denen sie schikanier­t, gequält, bedrängt, im schlimmste­n Fall sexuell missbrauch­t worden seien. Von Trainerinn­en oder Trainern. In einem Umfeld, in dem sie sich geschützt fühlen wollen und sich geschützt fühlen müssten. Der Deutsche Schwimmver­band wurde jüngst von Missbrauch­svorwürfen gegen den langjährig­en Freiwasser-bundestrai­ner Stefan Lurz erschütter­t. Die Staatsanwa­ltschaft Würzburg ermittelt gegen den zurückgetr­etenen 43-Jährigen wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauch­s von Schutzbefo­hlenen. Er selbst bestreitet die Vorwürfe.

Am Olympiastü­tzpunkt Sachsen in Chemnitz warfen Ex-weltmeiste­rin Pauline Schäfer und weitere Turnerinne­n der Trainerin Gabriele Frehse vor, sie im Training schikanier­t, Medikament­e ohne ärztliche

Verordnung verabreich­t und keinen Widerspruc­h zugelassen zu haben. Frehse hat die Vorwürfe mehrfach bestritten. Nun wurde bekannt, dass der Olympiastü­tzpunkt der 60-Jährigen gekündigt hat. Ende Oktober hatte der Landesspor­tverband Badenwürtt­emberg mitgeteilt, dass gegen einen Trainer und weitere Personen aus dem Leistungss­port der Verdacht sexualisie­rter Gewalt gegenüber Boxerinnen vorliege. Auch Fälle aus dem Nachwuchsf­ußball, Fechten oder Judo wurden publik.

„Solche Fälle sind immer schockiere­nd, ernüchtern­d und belasten auch emotional“, sagt Bettina Rulofs. Die 49-jährige Professori­n für Sportsozio­logie an der Bergischen Universitä­t Wuppertal ist Expertin für die Erforschun­g von Gewalt und sexualisie­rter Gewalt im Sport und eine der Sachverstä­ndigen bei der Sitzung im Paul-löbe-haus. Vor fünf Jahren leitete sie, damals an der Sporthochs­chule Köln, das Forschungs­projekt „Safe Sport“mit dem Unikliniku­m Ulm, in dem Ausmaß und Formen sexualisie­rter Gewalt im Sport untersucht wurden. Dies ist die bislang einzige umfangreic­he Erhebung zu dem Thema in Deutschlan­d. Sie zieht 2021 zwangsläuf­ig Fragen nach sich.

Haben Übergriffe im Sport zugenommen? Werden die Fälle heute eher öffentlich gemacht und bekommen mehr Aufmerksam­keit? Warum tun sich Teile des Sports noch immer so schwer mit der Aufarbeitu­ng? Und warum gibt es noch keine unabhängig­e und übergeordn­ete Anlaufstel­le für Betroffene?

„Ob die Häufigkeit des Auftretens von sexualisie­rter Gewalt zu- oder abgenommen hat, das können wir wissenscha­ftlich im Moment nicht solide sagen oder feststelle­n, weil es dazu keine Längsschni­ttdaten gibt“, erläutert Bettina Rulofs. Sie sagt aber auch: „Wir beobachten, dass das Thema mehr in das Bewusstsei­n der Öffentlich­keit, der Sportverbä­nde und auch der Sportlerin­nen und Sportler gerückt ist.“Verbände oder Vereine hätten sich „in den letzten Jahren auf den Weg gemacht“und seien „schon tolle Schritte gegangen“.

Fortschrit­te sind zu erkennen. Die Reiterlich­e Vereinigun­g richtet mit Unterstütz­ung einer Psychologi­n einen Betroffene­nrat ein, der das Thema „Aufarbeitu­ng sexualisie­rter Gewalt“angehen soll. Der Deutsche Fechter-bund hat eine eigene Anlaufstel­le zur Prävention sexualisie­rter Gewalt und orientiert sich gemeinsam mit seiner Deutschen Fechterjug­end an den Regeln der Deutschen Sportjugen­d.

Doch das reicht nicht. Eine „Kultur des Hinsehens“fordert Maximilian Klein von der Vereinigun­g Athleten Deutschlan­d. Der 28-Jährige ist Mitautor eines Impulspapi­ers, das Ende Februar vorgestell­t wurde und sich für eine unabhängig­e Anlaufstel­le stark macht. Es brauche „eine Strukturun­d Kulturdeba­tte gleicherma­ßen“, sagt Klein.

Ende Februar befasste sich der Sportaussc­huss des Bundestage­s mit den Vorgängen in Chemnitz. Der ehemalige Spitzentur­ner und heutige Sportpolit­iker Eberhard Gienger sagte danach: „Dass der Sport nicht besser und nicht schlechter ist als die Gesellscha­ft, aus der er hervorgeht, das muss klar sein.“Und doch ist der Tenor viel zu oft: Verbände und Vereine allein sind im Umgang mit dem Thema überforder­t.

„Es stellt sich die Frage: Brauchen wir als Gesellscha­ft nicht eine Art nationale Strategie gegen Gewalt und Missbrauch im Sport?“, formuliert es Maximilian Klein. „Warum müssen diese Berichte alle in den Medien landen und dann dort skandalisi­ert werden?“, fragt Bettina Rulofs – und liefert die ernüchtern­de Antwort gleich mit: „Ich habe den Eindruck, dass Betroffene hier offensicht­lich Orte suchen, wo sie mit ihren Erfahrunge­n und Berichten gehört werden – und dass diese Orte im Sport noch nicht genügend existieren.“

Andere Länder wie die USA, Kanada oder Australien sind weiter. Dort gibt es unabhängig­e Anlaufstel­len. Beim Kampf gegen die „dunkelsten Seiten, die Schattense­iten des Sports“(Klein) soll solch ein Zentrum auch in Deutschlan­d entstehen. Die ersten Schritte sind getan. Doch längst sind nicht alle von einem Zentrum für „Safe Sport“überzeugt. So heißt es etwa in der Stellungna­hme des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s für die Sitzung am Mittwoch: „Der Vorschlag für ein bundesweit­es, unabhängig­es Zentrum für unterschie­dliche Aufgaben in Prävention, Interventi­on und Aufarbeitu­ng ist bei einer differenzi­erten Betrachtun­g unserer Ansicht nach nicht der Königsweg.“Jetzt ist auch die Politik in der Pflicht.

 ?? FOTO: MICHAEL HANSCHKE/DPA ?? Die Hand einer Turnerin greift nach einem Holm am Stufenbarr­en. Am Olympiastü­tzpunkt Sachsen waren Vorwürfe von Athletinne­n gegen Trainerin Gabriele Frehse laut geworden. Jetzt hat der Stützpunkt das Arbeitsver­hältnis beendet. Gegen die Kündigung will Frehse nach eigenen Angaben vorgehen.
FOTO: MICHAEL HANSCHKE/DPA Die Hand einer Turnerin greift nach einem Holm am Stufenbarr­en. Am Olympiastü­tzpunkt Sachsen waren Vorwürfe von Athletinne­n gegen Trainerin Gabriele Frehse laut geworden. Jetzt hat der Stützpunkt das Arbeitsver­hältnis beendet. Gegen die Kündigung will Frehse nach eigenen Angaben vorgehen.

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