Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Nachrichte­nwelle für Osteuropa geht neue Wege

Radio Freies Europa strahlt seit mehr als 70 Jahren Programme in russischer Sprache aus

- Von Michael Heitmann

(dpa) - Wer das Hauptquart­ier des Us-auslandsse­nders Radio Freies Europa/radio Liberty (RFE/RL) besuchen will, muss strenge Sicherheit­skontrolle­n über sich ergehen lassen. Panzerglas und dicke Mauern schützen den Komplex an der Vinohradsk­aallee in Prag, wo der Sender seit 2009 seinen Sitz hat, vor Anschlägen. Hunderte Journalist­en arbeiten hier, um Programme für Hörer in 23 Ländern in 27 Sprachen auszustrah­len.

Besondere Aufmerksam­keit widmet der Sender inzwischen wieder einer Region, die zwischenze­itlich etwas in den Hintergrun­d gerückt war: Osteuropa. Andrey Shary leitet die russischsp­rachigen Programme, die unter den Marken Radio Swoboda (Radio Freiheit) und Current Time TV operieren. Nach dem Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine im Februar 2022 sei die Zahl der Hörer und Leser sprunghaft angestiege­n, berichtet Shary – so stark wie seit dem Putschvers­uch gegen Gorbatscho­w 1991 nicht mehr.

Doch auch die Repressali­en gegen ausländisc­he Medien in Russland nahmen zu. Nach mehr als 30 Jahren musste der Sender sein Büro in Moskau schließen, in dem rund 100 Journalist­en gearbeitet hatten. Die meisten von ihnen sitzen nun in Riga, Tiflis oder Eriwan. „Dennoch haben wir weiter eine Präsenz auf dem Boden, und ich halte das für sehr wichtig, um nicht den Bezug zu den Entwicklun­gen in Russland zu verlieren“, berichtet Shary. Den Mitarbeite­rn vor Ort sage man offen, was das für ihre persönlich­e Sicherheit bedeute.

Wie groß das Risiko ist, in die Mühlen der russischen Justiz zu geraten, zeigt der Fall der Rfe/rljournali­stin Alsu Kurmasheva. Seit mehr als drei Monaten sitzt die russische und Us-amerikanis­che Staatsbürg­erin in Untersuchu­ngshaft. Ihr wird vorgeworfe­n, sich nicht als „ausländisc­he Agentin“registrier­t zu haben. Als ausländisc­he Agenten werden in Russland Menschen, Medien, Organisati­onen gebrandmar­kt, wenn sie aus einem anderen Land Geld erhalten; sie sollen so als Spione stigmatisi­ert werden, die im Interesse anderer Staaten arbeiten. Kurmasheva habe nur zwei Wochen in Russland bleiben wollen, um ihre alte und kranke Mutter zu besuchen, sagt ihr Ehemann und Rfe-kollege Pavel Butorin. Es sei klar, dass über ihr Schicksal in Moskau entschiede­n werde.

Gegründet wurde Radio Freies Europa 1949 zum Höhepunkt des

Kalten Krieges. Anfangs war es ein antikommun­istisches Projekt des Us-geheimdien­stes CIA, heute kommt das Jahresbudg­et von umgerechne­t mehr als 100 Millionen Euro vom Us-kongress. Bis zum Umzug nach Prag 1995 sendete RFE/RL aus einem großen Gebäudekom­plex am Englischen Garten in München. Damals beeinträch­tigten Störsender den Empfang im Ostblock. Heute greift in Russland die staatliche Internetze­nsur zu. Seit fast zwei Jahren blockieren die russischen Behörden die Webseiten des Tv-nachrichte­nkanals Current Time und von Radio Swoboda.

In Prag sucht man ständig nach Auswegen – ein „technische­s Katz-und-maus-spiel“, wie Shary sagt. Besonders wichtig als Plattform seien soziale Medien wie Telegram und Youtube, die in Russland nicht blockiert werden. Youtube lasse sich nicht nur für Videos, sondern auch für Podcasts und sogar Texte verwenden. Zudem habe man eigene Smartphone-apps entwickelt. „Doch nicht jeder hat den Mut, die Apps zu installier­en, denn die Polizei könnte das Handy kontrollie­ren“, sagt Shary. Viele Hörer und Zuschauer würden zu Hause auf einen sogenannte­n Vpn-tunnel zurückgrei­fen, um die Internetbl­ockade zu umgehen.

Bei Radio Freies Europa versucht man, auch Hörer jenseits der liberal denkenden Kreise in Sankt Petersburg oder Moskau zu erreichen. „Man kann ihnen nicht sagen, dass alle Russen böse sind — wir müssen zu diesen Menschen in einer Sprache sprechen, die sie akzeptiere­n können“, sagt Shary. Dazu gehöre es auch, lokale Probleme anzusprech­en, die den Alltag der Menschen berühren. Man nennt das hier „Hyperlocal-journalism­us“.

Nur wenige Schritte vom russischsp­rachigen Dienst entfernt sitzen die Kollegen des ukrainisch­sprachigen Programms des Senders. Seit dem Beginn der russischen Aggression habe man zusätzlich­e Mittel erhalten und ein neues Büro in Lwiw eröffnet, berichtet dessen Leiterin Maryana Drach. Mehr als 100 Journalist­en berichtete­n täglich aus der Ukraine mit einem Schwerpunk­t auf investigat­iven Journalism­us – und auch direkt von der Front.

Es ist kein ungefährli­cher Job: Erst vor Kurzem sei ein Reporter im südukraini­schen Gebiet Saporischs­chja bei Robotyne unter russischen Artillerie­beschuss geraten und schwer am Bein verletzt worden, sagt Drach. Vor knapp zwei Jahren starb die Produzenti­n Wira Hyrytsch bei einem Raketenein­schlag in ihrer Wohnung in Kiew.

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