Schwäbische Zeitung (Biberach)
Gefährliche Kopfsache
Bestimmte Sportarten bergen das Risiko schwerer Verletzungen – In den USA ist vor allem American Football ein Reizthema
- Sobald der Ball beim American Football im Spiel ist, rennen muskelbepackte Männer aufeinander zu. Der ballführende Spieler soll schließlich so schnell wie möglich zu Boden gebracht werden. Je intensiver das sogenannte Tackling, desto höher der Beifall der Zuschauer. Wird der Quarterback, der Spielmacher, attackiert und zu Fall gebracht, freuen sich die Verteidiger der gegnerischen Mannschaft wie Fußballer über ein Tor. Harte Checks mussten jüngst die Carolina Panthers um ihren Quarterback Cam Newton im Super Bowl, dem Endspiel der National Football-League (NFL), gegen die Denver Broncos aushalten.
Doch wie gefährlich ist American Football? Diese Frage wird in den USA seit Jahren diskutiert. Mehr als 3000 ehemalige Spieler haben die Profiliga NFL vor fünf Jahren sogar verklagt. Ihre Behauptung: Durch das jahrelange Footballspielen seien Gehirnverletzungen mit Langzeitschäden für die Betroffenen entstanden, die Liga leugne jedoch, dass es einen Zusammenhang zwischen Sport und den Verletzungen gebe. Beide Parteien einigten sich außergerichtlich – die NFL zahlte mehrere Millionen Dollar. Die Diskussionen blieben aber. Auch durch Will Smiths Hollywoodfilm „Erschütternde Wahrheit“, und auch in Deutschland, wo der Film jetzt zu sehen ist. Denn American Football ist zuletzt hierzulande immer populärer geworden. Die Übertragungen der NFL-Spiele beim Spartensender Pro Sieben Maxx waren sonntags erfolgreicher, als es sich der Sender selbst vorgestellt hatte. In den deutschen Football-Ligen freuen sich die Vereine über mehr Nachwuchs und deutlich höhere Zuschauerzahlen. Bei den Ravensburg Razorbacks kamen im vergangenen Jahr teilweise mehr als 1000 Zuschauer zu den Heimspielen in der Regionalliga, der dritten Liga. „Football boomt“, sagt Cheftrainer Thomas Miller. Seine Mannschaft ist in der Vorsaison in die German-Football-League 2 aufgestiegen.
RAVENSBURG
Wie bei einem Autounfall
Wenn wie beim Football mehr als 100 Kilogramm schwere Männer mit vollem Tempo aufeinanderprallen, sind Verletzungen nicht ungewöhnlich. „Nacken- und Kopfverletzun- gen eines Footballers sind mit den Folgen eines Autounfalls vergleichbar“, sagt Johannes Landherr von den Razorbacks, der selbst jahrelang aktiver Spieler war. Vier Gehirnerschütterungen hatte er laut eigener Aussage in seiner Karriere, inzwischen ist er bei den Razorbacks für das Marketing zuständig. „In Deutschland sind Gehirnerschütterungen aber nicht das große Thema“, behauptet Landherr.
Für Aufsehen sorgte in den USA der Pathologe Bennet Omalu – die Hauptfigur in „Erschütternde Wahrheit“. Er obduzierte 2002 in Pittsburgh die Leiche des ehemaligen Profis Mike Webster. Webster, einst einer der Stars der nordamerikanischen Profiliga NFL, starb mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt. Bei der Obduktion des Gehirns entdeckte Omalu kleine Ablagerungen, die der Arzt bis dahin nur von Alzheimerpatienten kannte, nicht aber von 50-jährigen Ex-Profisportlern.
Die Entdeckung von Omalu wird „Chronisch traumatische Enzephalopathie“, kurz CTE, genannt. Das Problem der Mediziner: CTE lässt sich nur bei Toten feststellen, wenn das Gehirn unter dem Mikroskop untersucht wird. Omalu hat nach Webster auch die Gehirne anderer verstorbener NFL-Spieler untersucht – und dort ebenfalls CTE festgestellt. Zusammenhänge zwischen Profisport und den Gehirnverletzungen lassen sich vermuten, aber eben nicht beweisen. „Das ist wie das Thema Doping“, meint Landherr vom Football-Zweitligisten Ravensburg. „Keiner will gerne drüber reden, schon gar nicht in der NFL.“Dort geht es wesentlich härter zur Sache als in Deutschland – schließlich ist American Football in den USA ein Multimilliarden-Dollar-Geschäft. In den deutschen Ligen sind dagegen nur Amateure unterwegs.
Profiboxer und Alzheimer
Beispiele für Verletzungspausen wegen Gehirnerschütterungen gibt es aber auch beim Boxen, Eishockeyspieler sind ebenfalls dieser Gefahr ausgesetzt. Zahlreiche ehemalige Profiboxer sind im Alter an Alzheimer erkrankt. Die Schläge auf den Kopf gelten als Ursache – Ärzte nannten es daher „Boxersyndrom“. „Bei einem Schlag gegen den Kopf kann es zu einer Verletzung mit Einblutung und Schwellung des Gehirn an der Schlagseite kommen“, erklärt der Ravensburger Sportmediziner Martin Volz. „Und zusätzlich eventuell sogar an dessen Gegenseite.“
Fußballer gehören genauso zu den gefährdeten Personen. Beim Zweikampf prallen Spieler mit den Köpfen zusammen, sie bekommen im Luftduell Ellenbogen ins Gesicht und sie machen im Laufe ihrer Kar- rieren Hunderte Kopfbälle. „Bei Fußballern – bezogen auf das Kopfballspiel – sehe ich die Gefahr aber nicht sehr groß“, meint Volz. „Sie haben eine gut trainierte Kopf- und Nackenmuskulatur und gehen bewusst zum Ball.“Gefährlicher werde es, wenn Sportler, etwa Eishockeyspieler, unerwartet gegen die Bande prallen.
Folgenreiches Doppelereignis
Wie Frederik Cabana, der in seiner Zeit beim Eishockey-Zweitligisten Ravensburg Towerstars in kurzer Zeit zwei Gehirnerschütterungen erlitt. „Durch ein Zweitereignis kommt es häufig zu einem langwierigen Second-Impact-Syndrom“, sagt Volz von der Sportklinik Ravensburg, der Cabana damals behandelte. „Er kam monatelang nicht mehr auf die Beine.“Auch nach seinem Wechsel zu den Hamburg Freezers sowie bei seiner aktuellen Station in Bietigheim hatte Cabana Probleme mit Gehirnerschütterungen. Inzwischen ist er laut eigener Aussage wieder fit, in dieser Saison machte der 29-jährige Deutsch-Kanadier 41 der 47 Saisonspiele für den DEL-2-Spitzenreiter Bietigheim.
Patrick Kurz, 20-jähriges Talent der Towerstars, krachte Ende September 2015 beim Spiel in Heilbronn mit dem Kopf voraus in die Bande. Erst zu Beginn des neuen Jahres kam Kurz aufs Eis zurück. „Bei körperlichen Belastungen wurde mir oft schwindlig“, so Kurz über seine Zeit im Krankenstand. Vor allem seit dem Fall Stefan Ustorf sind die Sportmediziner in Deutschland bei Gehirnerschütterungen noch vorsichtiger. Ustorf, einer der bekanntesten deutschen Eishockeyspieler, musste seine Karriere bei den Eisbären Berlin 2013 nach mehreren Gehirnerschütterungen beenden. Er wechselte hinter die Bande und wurde Sportdirektor der Berliner in der Deutschen Eishockey-Liga. „Die bleibenden Schäden werden Einfluss auf mein Leben haben“, sagte Ustorf in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“.
Kopfschmerzen nach Karrierende
Der 42-Jährige litt auch nach seinem Karriereende bei Belastungen immer wieder unter Kopfschmerzen. „Bei jedem Eishockey- oder Fußballspieler mit Gehirnerschütterung veranlassen wir eine fachärztliche neurologische Untersuchung“, versichert der Mediziner Volz.
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Für Physiotherapeuten und Trainer gibt es zudem Merkzettel für einen Schnelltest, um Gehirnerschütterungen zu erkennen. Vom FußballWeltverband Fifa gibt es hierfür eine Taschenkarte. Besteht bei einem Spieler auf dem Feld der Verdacht einer Gehirnerschütterung, sollen folgende Fragen einen ersten Aufschluss geben: Welche Halbzeit haben wir? An welchem Spielort sind wir heute? Wer hat das letzte Tor erzielt? Kann der Fußballer die Fragen nicht korrekt beantworten oder leidet unter Schwindelgefühlen und Kopfschmerzen, sind das ernste Anzeichen einer Gehirnerschütterung. Dann heißt es vorerst: absolutes Sportverbot.
Für die Rückkehr der Sportler in den Trainings- oder Spielbetrieb gibt es ein sechsstufiges „Return-toPlay“-Modell. Zunächst gilt völlige Ruhe, erst langsam darf die Belastung gesteigert werden. „Unter Eishockey-Ärzten gibt es die Empfehlung, einem Sportler mindestens zwei Wochen Spielverbot zu erteilen, wenn er bewusstlos war“, sagt Volz. Im Eishockey ist es üblich, dass Spieler nach Verletzungen bei den ersten Trainingseinheiten ein andersfarbiges Leibchen oder Trikot anhaben. Bei den Towerstars ist es ein gelbes. Das bedeutet: jeglichen Körperkontakt vermeiden. Geben die Ärzte ihr Okay, dürfen die Sportler wieder voll loslegen. Profis gehen dann wieder mit vollem Einsatz in die Zweikämpfe – es geht schließlich um ihre Zukunft.
„Das Gehirn hat viele Möglichkeiten, sich zu regenerieren“, meint Volz zwar. Diskussionen wird es aber weiter geben. Vor allem im knallharten Milliardengeschäft der NFL.