Schwäbische Zeitung (Biberach)
Eines langen Tages Reise in die Welt
Finale auf der Berlinale mit einem Achtstundenfilm von den Philippinen und dem Zwölfstünder einer Konstanzerin
- Es gibt Filme, mit denen man Geld verdienen will. Und es gibt Filme, die für Festivals und Cineasten gemacht sind. Die dürfen, ja die müssen gewagt sein. Ein solches Wagnis ist die Auswahlkommission der Berlinale immer mal wieder eingegangen. Aber einen Wettbewerbsfilm von acht Stunden Dauer – das hat es noch nicht gegeben: „Hele Sa Hiwagang Napis – A Lullaby to The Sorrowful Mystery“erzählt vom Befreiungskampf auf den Philippinen gegen das spanische Kolonialjoch – in 482 Minuten und in SchwarzWeiß.
Eine solcher Langfilm bringt die ganze Festivalroutine durcheinander. Normalerweise werden am Tag drei Wettbewerbsfilme gezeigt. Das heißt in der Regel: Um 9 Uhr läuft der erste, um 12 Uhr der zweite und um 15 Uhr der dritte. Bei dem philippinischen Wettbewerbsbeitrag funktioniert das nicht. Der fing um 9.30 Uhr an und wurde nach einer Pause um halb zwei fortgesetzt.
BERLIN
Wenig gelungene Geschichtsstunde
In der üblichen Gala-Vorstellung am Abend fürs Promipublikum wurde er erst gar nicht gezeigt. Da lief als Hommage an Ehrenbären-Preisträger Michael Ballhaus „Gangs of New York“. Und wie ist es zu interpretieren, dass sich die Jury am Donnerstagmorgen gar nicht sehen ließ? Haben Meryl Streep und ihre Mitjuroren den Film schon vorab auf DVD gesehen? Und was geschähe, wenn die Koproduktion der Philippinen und Singapurs tatsächlich gewänne? Würden die Gäste bei der Bärenverleihung von abends 19 Uhr bis morgens um drei Uhr im Berlinale-Palast festsitzen? All die Promis, die bloß für einen Schnappschuss auf dem roten Teppich zur Berlinale kommen, würden zu acht Stunden Dauergucken verurteilt. Das wäre echt mal ein Knaller.
Aber dazu wird es nicht kommen. Na ja, man weiß ja nie. Irgendeine Auszeichnung wird sich finden lassen. Das wäre dann zumindest politisch korrekt. Der Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz beleuchtet eine Geschichte, die außerhalb der Philippinen und Spaniens nur wenigen bekannt sein dürfte.
Es geht um den Befreiungskampf der Philippinen gegen die spanische Kolonialmacht und um den philippinischen Nationalhelden Andrés Bonifacio y de Castro. Der wurde im Alter von 34 Jahren verraten und von den Spaniern ermordet. Lav Diaz benutzt nicht nur grobkörnige Schwarz-Weiß-Bilder, sondern verlässt auch immer wieder die Zeitschiene, mischt historische und zeitgenössische Figuren, um von der Historie seines Heimatlandes zu erzählen. Ein Film könnte an unserer Unkenntnis über philippinische Geschichte etwas ändern. Aber nicht dieser.
In den Nebenreihen hingegen ist immer Platz für Experimente. Zum Beispiel im „Forum“. Dort ist Ulrike Ottinger (mal wieder) vertreten. Die inzwischen 73-jährige Grande Dame des künstlerischen Dokumentarfilms zeigt „Chamissos Schatten“: 709 Minuten (jedoch nicht in Schwarz-Weiß). Bei der Berlinale gab es vergangenen Samstag eine vollständige Aufführung von 10 Uhr morgens bis Mitternacht. Ansonsten war Ottingers Filmexkursion in die Beringsee als wohldosierter Dreiteiler zu genießen.
Ja, genießen. Denn die gebürtige Konstanzerin, die es in den 1960erJahren nach Paris zog, um Malerei zu studieren, die aber gleichzeitig auch Vorlesungen bei dem berühmten Ethnologen Claude Levi-Strauss hörte, hat wieder einen beeindruckenden Filmessay über eine Landschaft und ihre Menschen gedreht. In „Cha- missos Schatten“reist die mehrfache Documenta-Teilnehmerin auf den Spuren von Forschungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts durch den Nordpazifik. So schließt sie quasi von Norden den Kreis zu ihren Erkundungen in Asien.
Kino, das die Augen öffnet
Den Titel liefert Adelbert von Chamisso. Der Autor von „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“war von 1815 bis 1818 Mitglied der legendären Rurik-Exkursion des in russischen Diensten stehenden Kapitäns Otto von Kotzebue. Chamissos „Bemerkungen und Ansichten einer Entdeckungsreise“von 1821 wurden zu Ottingers Führer auf dem Weg nach Alaska.
Zu den fantastischen Aufnahmen aus dieser faszinierenden Weltgegend liest Hanns Zischlers Chamisso. Und tatsächlich sind die Beschreibungen des Dichters unglaublich präzise und decken sich mit den Bildern auf der Leinwand. Ebenso ist es mit den Zitaten aus den Logbüchern James Cooks und den Aufzeichnungen des Arztes und Begleiters Berings, Georg Wilhelm Steller.
Die Autorenfilmerin Ottinger sucht nie nach „schönen Bildern“um ihrer selbst willen. Ihr geht es immer um die Frage, wie die Menschen mit dieser und in dieser Natur leben. Klar, auf diese epische Erzählweise muss man sich einlassen. Aber wer dies tut, wird einen großen Gewinn haben. Denn Kino wie dieses öffnet die Augen, lässt uns in die Ferne blicken. Wir können die große weite Welt in Siebenmeilenstiefeln durchmessen. Nur müssen wir dafür nicht unsere Seele an den Teufel verkaufen wie Chamissos Held Peter Schlemihl.