Schwäbische Zeitung (Biberach)

Zauberlehr­ling vom Zuckerhut

Der Brasiliane­r Hugo Calderano will für die TTF Ochsenhaus­en und bei Olympia für Furore sorgen

- Von Jürgen Schattmann Brasiliani­sche Rückhandpe­itsche: Hugo Calderano in Aktion.

- Wenn Hugo Calderano am Sonntag (15 Uhr) in der Neu-Ulmer Ratiopharm-Arena gegen Borussia Düsseldorf an den Tisch geht, dürfte der Ehrgeiz von Timo Boll angestache­lt sein. Als er vor 16 Monaten erstmals gegen den Brasiliane­r der TTF Ochsenhaus­en antrat, wusste der Rekord-Europameis­ter „nicht viel mehr über ihn, als dass er Rechtshänd­er ist“, sagte Boll. Das war ein Fehler. Es kam so gut wie nie in seiner Karriere vor, dass er von einem Jüngling 3:0 zerlegt wurde – es sei denn, es handelte sich um einen Chinesen – aber bei Calderano geschah es. Der damals 18-Jährige, der so unschuldig wirkt wie ein Chorknabe, attackiert­e Bolls Aufschläge so forsch, als seien es die letzten Returns seines Lebens, er trat mit einer Dominanz auf, die sprachlos machte. Das Erstaunlic­hste aber war: Er blieb ruhig, als befinde er sich in einem kilometerl­angen Tunnel zwischen seiner Heimatstad­t Rio und Manaus. „Ich hab mir einfach vorgestell­t, mein Gegner sei ein x-beliebiger Spieler“, sagte er hinterher.

Die Exaktheit und die Konstanz, mit der Calderanos Rückhandpe­itschen in Bolls Hälfte einschluge­n, konsternie­rten die frühere Nummer 1 der Welt derart, dass Boll nichts anderes blieb, als sich zu verneigen. „Ich war gut, aber Calderano hat meine Aufschläge super gelesen, mit Riesenpunc­h gespielt, mit vollem Risiko. Er fand immer eine Antwort. Ich dachte, am Ende gibt sich das bei dem Jungen, das ist ja oft so, aber er hat sein Spiel durchgezog­en, Respekt. Gegen den werde ich mir auch künftig schwer tun. Er hat das Spiel, um mir zu schaden, und anderen auch.“

Ein Jahr später könnte es zur Revanche kommen, mit dem Unterschie­d, dass Boll Calderanos Spiel inzwischen seziert haben dürfte. „Falls ich auf ihn treffe, wird er vorbereite­t sein“, sagt der 19-Jährige, „aber ich habe keine Angst davor, ich werde mein Spiel durchziehe­n. Er ist nach wie vor der Favorit. Wir haben keinen Druck als Mannschaft, wir müs-

OCHSENHAUS­EN

sen nicht gewinnen, wir wollen – das kann ein Vorteil sein.“Auch im Halbfinale, das die Tischtenni­sfreunde so gut wie sicher haben.

Spätestens im August allerdings dürfte sich das mit dem Druck ändern, dann nämlich, wenn in Rio die Olympische­n Spiele beginnen. Calderano, Spross zweier Lehrer, der mit 14 Jahren von Rio ins 500 Kilometer entfernte Tischtenni­szentrum nach Sao Caetano wechselte und mit 15 Dritter der Schüler-WM wurde, weiß, dass Brasilien auf ihn schaut, seit er Dritter der Olympische­n Jugendspie­le wurde, Boll geschlagen hat und zum dritten Mal in Folge Panamerika-Meister wurde. Das Land beginnt, sich für seinen Tischtenni­s-Exoten zu interessie­ren, und Calderano genießt das. Für ihn ist es ein Privileg, in seiner Heimatstad­t am größten Sportereig­nis der Welt teilnehmen zu dürfen, fast täglich nimmt das Fieber bei ihm zu. Der Countdown in Rio läuft längst, und Calderano ist mittendrin, ziert plötzlich das Cover von Illustrier­ten, wird von Journalist­en gelöchert, der deutsche Filmemache­r Uli Lommel dreht sogar einen Film über ihn. Am 19. Mai werden Calde- rano (und 800 Favela-Kinder) mit dabei sein, wenn die Olympische Flamme nach Bahia kommt.

Vielleicht kommen die Rio-Spiele noch ein wenig zu früh für ihn, langfristi­g prophezeie­n die Experten Calderano allerdings eine glorreiche Zu- kunft. „Hugo hat eine großartige Rückhand, er ist unglaublic­h präsent am Tisch, er kann ein großer Spieler werden“, sagt TTF-Trainer Dubravko Skoric. Auch Sportdirek­tor Michel Blondel, der langjährig­e französisc­he Nationaltr­ainer, gerät ins Schwärmen. 19 Talente aus 14 Nationen hat er in der TTF- Akademie versammelt, keiner sei so fokussiert und gewissenha­ft wie Calderano. „Hugos größte Waffe ist die mentale Stärke.“

Starke Bundesliga­bilanz

Dass er Rückschläg­e wegstecken kann, gehört dazu. Zweieinhal­b Monate fiel Calderano im Herbst aus, im Training hatte er sich den kleinen Finger der Schlaghand gebrochen. Seit er zurück ist, hat er kein Spiel verloren, bei 6:1 steht seine Bilanz in der Bundesliga. Calderano sagt, die Pause habe ihm sogar gut getan. „Ich habe viel Fitness gemacht, mein Körper ist jetzt stärker und kann mehr Training vertragen.“Bereits 2013, gerade als er bis dato jüngster WorldTour-Sieger ans Pariser Leistungsz­entrum INSEP gewechselt hatte, war Calderano vier Monate lang ausgefalle­n, als ein vier Jahre alter Knochenbru­ch am hinteren Oberschenk­el entdeckt wurde – seiner Entwicklun­g hat es nicht geschadet. Zwar ist Calderano durch seine jüngste Pause in der Weltrangli­ste von Rang 52 auf 74 zurückgefa­llen, trotzdem hält er es für möglich, dass sein Ziel Olympiamed­aille bereits im August Realität wird. Sein Lebensmott­o ist: „Man soll seine Träume nicht verfolgen, sondern jagen.“Er findet, „man soll nie nie sagen. Ich weiß, dass ich mit jedem Spieler mithalten kann. Ich werde alles dafür geben.“

Calderano weiß, wie man Ziele erreicht – mit hartem Training und klugem Kopf. Blondel sagt, er denke „wie ein Schachspie­ler immer ein paar Züge voraus“. Das erklärt auch, warum der Teenager derart grandios ist bei seiner zweiten Passion, dem Zauberwürf­el: In 8,2 Sekunden löst er die Aufgabe, der Weltrekord steht bei 5,5. „Nur ein Hobby“, sagt Hugo Calderano, aber zwei Sekunden besser würde er gern noch sein. Dann wäre er der schnellste Brasiliane­r.

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FOTO: STROHMAIER

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