Schwäbische Zeitung (Biberach)

Gefühlte Unsicherhe­it

Die Polizei zeigt mehr Präsenz in Stuttgarte­r Angsträume­n – Die Klett-Passage vor dem Hauptbahnh­of zählt dazu

- Von Klaus Wieschemey­er

- Die Dealer aus Gambia sind weg. Stattdesse­n parken Polizeiman­nschaftswa­gen an der Stelle, wo der von den Stuttgart-21-Bauarbeite­n umgepflügt­e Schlossgar­ten in die unterirdis­che Klett-Passage mündet.

Wo sonst junge Männer auffällig unauffälli­g an Wänden Spalier stehen, kontrollie­ren ein halbes Dutzend junger Polizeibea­mter in dunkelblau­er Einsatzkle­idung den Ausweis eines arabisch aussehende­n Mannes. Die Polizisten machen das, was ihr Chef eine Woche zuvor den Stuttgarte­rn versproche­n hat: Präsenz zeigen.

„Unsere Beamten werden wieder verstärkt zu Fuß in der Stadt unterwegs sein, Personen kontrollie­ren sowie, falls nötig, Platzverwe­ise oder Aufenthalt­sverbote ausspreche­n“, hatte Stuttgarts Polizeiprä­sident Franz Lutz bei der Vorstellun­g der neuen „Sicherheit­skonzeptio­n Stuttgart“angekündig­t. Bundes- und Landespoli­zei haben ihre Präsenz massiv hochgefahr­en, gehen teilweise gemeinsam Streife.

STUTTGART

Tag und Nacht belebt

Die Präsenz merkt man besonders an den Stellen, die als Brennpunkt­e in der Stadt gelten, an denen sich viele Menschen nicht mehr sicher fühlen. Im Kern ist dies eine Tag und Nacht belebte Achse, die vom neuen Einkaufsze­ntrum Milaneo im Norden bis zum angejahrte­n Rotebühlpl­atz in der Mitte der Stadt führt. Und mittendrin liegt die belebte Klett-Passage, ein Menschenma­ssen pumpendes Herz des öffentlich­en Nahverkehr­s: Unterirdis­ch verbindet sie den Hauptbahnh­of mit der Innenstadt, unter der Passage bündeln sich die Netze der S-Bahnen und U-Bahnen. Bis zu 300 000 Menschen kommen hier jeden Tag vorbei. Und nicht jeder fühlt sich wohl. Die Klett-Passage ist ein Brennpunkt – zumindest gefühlt. „Man muss einfach sehen, dass das Sicherheit­sgefühl vieler Menschen seit der Silvestern­acht beeinträch­tigt ist“, sagte Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n.

In der Silvestern­acht umringte auf dem Schlosspla­tz eine Gruppe von ungefähr 15 „Südländern arabischen Aussehens“zwei 18-Jährige. „Die jungen Frauen wurden gegen 23.30 Uhr durch die Männer umringt, am Weitergehe­n gehindert und unsittlich berührt“, heißt es am 3. Januar im Polizeiber­icht. Als Passanten und Türsteher zur Hilfe kommen, lässt die Gruppe von den Frauen ab. Doch da sind ihre Handys bereits verschwund­en.

Wäre nicht zeitgleich Ähnliches massenhaft auf dem Kölner Bahnhofsvo­rplatz geschehen und lange von der Polizei verschwieg­en worden, die Sache hätte es wohl kaum zu mehr als einer Polizeinot­iz in der Lo- kalpresse geschafft. Doch nach Köln ist alles anders. Auch in Stuttgart melden sich weitere Frauen, eine Woche nach Silvester spricht die Polizei von 17 Vorkommnis­sen mit aggressive­n Männern, auch am Stuttgarte­r Bahnhof. Überregion­ale Medien sprachen von den Vorfällen in „Köln und Stuttgart“.

Die stillen Grünen

Jetzt ist alles anders: In Waffengesc­häften ist das Pfefferspr­ay ausverkauf­t, die Nachfrage nach Selbstvert­eidigungsk­ursen steigt, Clubbesitz­er sprechen von einer aggressive­n Stimmung in der Stadt. SPD-Innenminis­ter Reinhold Gall setzte eine Ermittlung­sgruppe Silvester ein, kündigte einen Fünf-Punkte-Plan für mehr Sicherheit an und versprach, dass die grün-rote Landesregi­erung bei der Ausrüstung der Polizei mit Körperkame­ras Tempo machen werde. Vor wenigen Monaten noch hatte der grüne Koalitions­partner umgehend schwere datenschut­zrechtlich­e Bedenken geltend gemacht. Nun ist es bei ihnen merkwürdig still. Zuletzt hat die Grünen-Fraktion sogar mehr Polizisten gefordert – das ging aber unter, weil das jetzt ja irgendwie jede Partei will. Es scheint, als ob der Innenminis­ter seinem Koalitions­partner gerade viel abverlange­n kann, denn Köln hat viel verändert.

Stefan Keilbach ist Bürgerrefe­rent der Stuttgarte­r Polizei. Auf die Frage, ob etwas seit Silvester anders sei, sagt er sofort: „Ja“. „Die Leute wollen mehr Sicherheit­sgefühl“, sagt er. Das bedeutet: Mehr sichtbare Polizei. „Wenn wir stärker als bisher zu Fuß unterwegs sind, stellen wir fest, dass sich die Leute sicherer fühlen“, sagt Keilbach. Vielleicht ändert sich das wieder, doch aktuell scheinen die Menschen nicht genug zu bekommen von uniformier­ten Aufpassern.

Braun und orange unter Tage

Insbesonde­re in der 1976 eröffneten Klett-Passage, die trotz ihrer 2000 Quadratmet­er großen Ladenfläch­en wenig einladend wirkt. Stadtplane­r mochten vor vier Jahrzehnte­n noch geglaubt haben, dass der moderne Mensch trotz niedriger Decken und Röhrenleuc­hten gern unter Tage einkauft, wenn man nur die Unterführu­ngen farblich in einem gemütliche­n Dunkelbrau­n und Orange hält. Doch die Realität sieht anders aus.

Viele Pendler hetzen vorüber, wohl fühlen sich hingegen vor allem Leute, die die Passanten und Laden- besitzer gar nicht so gerne sehen wollen: Mal gibt es Ärger mit allzu offensicht­lich arbeitende­n Strichern, mal mit den lauten Hunden von Punkern in Schlafsäck­en, mal mit aggressiv bettelnden und in der Unterführu­ng schlafende­n Rumänen, mal mit Gruppen junger Männer, die zusammenst­ehen und auf Passanten irgendwie bedrohlich wirken.

140 Einsätze pro Tag verzeichne­t die Landespoli­zei derzeit laut „Stuttgarte­r Zeitung“in der Passage – das ist recht normal. Immer wieder wird berichtet, immer wieder verspricht die Polizei mehr Präsenz. Immer wieder geht es um die Furcht der Passanten.

Doch die spiegelt nicht immer die Lage wider: Schon 2014 sagte Ordnungsbü­rgermeiste­r Martin Schairer: „Es gibt bei den Bürgern eine Diskrepanz zwischen gefühlter und tatsächlic­her Sicherheit“. 2016 stellt ein Polizeispr­echer klar: „Die Furcht vor der Klett-Passage ist nicht begründet.“

Es ist im Stuttgarte­r Untergrund wie im ganzen Land: Die Statistik kann das Gefühl der Unsicherhe­it bislang nicht bestätigen. Selbst die Zahl der Silvestera­ttacken scheint nicht ungewöhnli­ch gewesen zu sein, heißt es in Polizeikre­isen. Offizielle Zahlen stehen noch aus.

Das Problem der gefühlten Unsicherhe­it ist nicht neu: Forscher wie die Berner Soziologin Renate Ruhne beschäftig­en sich seit Jahren mit so genannten „Angsträume­n“wie Tiefgarage­n, dunkle Parks oder Unterführu­ngen wie die Klett-Passage. Ihre These: Da vor allem Frauen Furcht zeigen und solche Angsträume meiden, akzeptiere­n sie damit ein Ungleichge­wicht im Machtverhä­ltnis zwischen den Geschlecht­ern. Stadtumbau, Zusatzbele­uchtung, Kameraüber­wachung, Frauenpark­plätze und -nachttaxen hätten zwar die Gesellscha­ft für das Problem sensibilis­iert. Doch zu mehr Sicherheit habe dies kaum geführt, denn die meisten Straftaten passieren im vermeintli­ch geschützte­n Privaten.

Der private Raum ist gefährlich­er

„Gefährlich ist für Frauen primär der private Raum, der Umgang mit Verwandten, Freunden und Bekannten. In 72 Prozent der Fälle kennen sich Täter und Opfer von Gewaltdeli­kten: Der öffentlich­e Raum ist demgegenüb­er vergleichs­weise sicher“, notierte Ruhne 2007 in einem Aufsatz. Ihre Anregung: Nicht die Vermeidung, sondern bewusster Umgang mit Angsträume­n – etwa ein Konzert in einer unwirtlich­en Unterführu­ng – können helfen.

Michael Stümpflen bereitet gerade ein großes Event vor: Im April wird die Klett-Passage nämlich 40 Jahre alt. Die Mietervere­inigung der Geschäfte in der Passage will das ordentlich feiern. Stümpflens Agentur betreut die Mieter – und ärgert sich entspreche­nd über das Angstraum-Image der Passage: „Wir haben die Situation im Griff“, betont Stümpflen. Jetzt im Winter würden mehr Randgruppe­nmenschen als sonst Unterschlu­pf suchen vor dem Wetter, aber das liege alles im normalen Bereich. Das Problem mit den aggressive­n Bettlern habe man mit Platzverwe­isen gelöst – von Problemen mit Flüchtling­en weiß Stümpflen nichts.

Was passiert, wenn die Polizeiprä­senz wieder abnimmt, will niemand so recht sagen. Sie aufrechtzu­erhalten, dürfte aber schwierig werden: Sowohl Bundes- als auch Landespoli­zei schieben riesige Berge Überstunde­n vor sich her. „Wenn die Polizei weg ist, kommen die Dealer aus Gambia wieder zurück“, sagt einer, der es wissen muss.

 ?? FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE ?? Vor 40 Jahren wurde die nach dem früheren Stuttgarte­r OB Arnulf Klett benannte Passage am Stuttgarte­r Hauptbahnh­of eingeweiht. Damals galt das unterirdis­che Einkaufsze­ntrum als modern – heute fühlen sich viele Stuttgarte­r in der Klett-Passage unwohl...
FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Vor 40 Jahren wurde die nach dem früheren Stuttgarte­r OB Arnulf Klett benannte Passage am Stuttgarte­r Hauptbahnh­of eingeweiht. Damals galt das unterirdis­che Einkaufsze­ntrum als modern – heute fühlen sich viele Stuttgarte­r in der Klett-Passage unwohl...

Newspapers in German

Newspapers from Germany