Schwäbische Zeitung (Biberach)
Goldener Bär für Doku über Lampedusa
Kein gutes Jahr für den deutschen Film: Der einzige Beitrag im Wettbewerb ging leer aus
- Eine Überraschung war es nicht, als Meryl Streep am Samstagabend den Dokumentarfilm „Fuocoammare“mit dem Goldenen Bären auszeichnete. Die Jury hat ihre Preise nachvollziehbar und richtig verteilt. Und der deutsche Film? Präsentierte sich in Berlin auf dem Tiefpunkt.
Nur ein deutscher Beitrag im Wettbewerb („24 Wochen“), der zudem leer ausging, auch keine Auffälligkeiten in den anderen BerlinaleReihen – nein, das war an der Spree kein gutes Jahr für deutsche Filme. Zumal hier eine Entwicklung kulminiert ist, die sich seit Längerem abgezeichnet hat: Deutsche Filme, die künstlerisch interessant sind, sind derzeit Mangelware. Das Problem hat nicht nur die Berlinale. Auch auf anderen Festivals läuft deutsches Kino im Abseits. Wenn der deutsche Anteil an den heimischen Besucherzahlen des Jahres 2015 hoch ist, dann liegt das an den „Fack ju Göhtes“dieser ungerechten Welt. Jedenfalls wird sich die Diskussion um die Filmförderung notwendigerweise forcieren.
Dabei war „24 Wochen“beileibe kein schlechter Film. Ein Film, der ein ernstes Thema – Spätabtreibung eines mehrfach behinderten Fötus’ – differenziert und mit Würde debattiert. Ein Film, der durchaus einen Preis hätte bekommen dürfen.
Dass der Goldene Bär an „Fuocoammare“(„Feuer auf dem Meer“, nach einer italienischen Canzone) geht, ist völlig in Ordnung und befeuert die Diskussion um die Teilnahme von Dokumentarfilmen an Festivals. Natürlich sind sie dort richtig! Zumal wenn sie ein aktuelles Thema so engagiert und kreativ angehen wie hier Gianfranco Rosi (übrigens nicht verwandt mit dem großen Kollegen Francesco Rosi). Er konfrontiert herzzerreißende Aufnahmen von afrikanischen Bootsflüchtlingen und
BERLIN
Rettungsaktionen der italienischen Marine vor der Insel Lampedusa mit Bildern aus dem dortigen Alltag – Schuljungs, die Zwillen bauen, Mammas, die Pasta kochen, Radiomoderatoren, die Schlager spielen. In Lampedusa, näher an Tunesien als an Italien gelegen, kommen Flüchtlinge seit Jahren zu Tausenden an, wenn sie nicht elend ertrinken. Der Film scheut auch drastische Aufnahmen von Leichen in Schiffsleibern nicht.
Frei von Aggressionen
Gianfranco Rosi ist selbst eine Art Flüchtling. Er kam 1964 als Kind italienischer Eltern in der damaligen Kolonie Eritrea zur Welt und musste das Land als kleiner Junge im Unabhängigkeitskrieg verlassen. Er hat mehr als ein Jahr mit den Dreharbeiten auf Lampedusa verbracht, einer Insel, auf der es keine Ausländerfeindlichkeit und keine Aggressionen gegenüber diesen Ärmsten der Armen gibt. Eine Insel der Fischer, sagte Rosi – „und Fischer akzeptieren alles, was über das Meer kommt“.
Die Entscheidungen für die Silbernen Bären sind allesamt sinnvoll und akzeptabel. Vielleicht ist es schade, dass die großartige Isabelle Huppert in „L’avenir“leer ausgegangen ist. Die Jury hat sich durch die Bank gegen die mainstreamigen Produktionen und für junge, unbekannte Namen und sperrige Filme entschieden. Selbst der eigentlich ungenießbare Achtstünder „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“wurde bedacht.
Dabei wurde deutlich, dass die 23 Filme in der Hauptreihe von einer großen thematischen und stilistischen Bandbreite waren. Das Thema Flüchtlinge zog sich wie ein roter Faden durch das Festival. Selbst eine auf den ersten Blick unpolitische Doku wie die über das Weltmusik-Ensemble „Silk Road“des Cellisten Yo-Yo Ma lenkte plötzlich den Blick auf Musiker aus Syrien oder Iran, die ihre eigenen Flucht-Geschichten erzählen.
Berlinale 2016: ein nicht immer hochklassiger, aber allemal interessanter und spannender Wettbewerb, viele Entdeckungen und einige Enttäuschungen in den Nebenreihen. Ihren Ruf als größtes Publikumsfestival der Welt unterstrich die Berlinale mit mehr als 310 000 verkauften Tickets, viele Säle waren ausverkauft.
Und dann war da noch jener Höhepunkt der Retrospektive japanischer Underground-Filme, den man deutlich lieber gesehen hätte als einen achtstündigen Film über einen Dschungelkrieg 1896: „Tokyo Cabbageman K“. Laut Programmheft erzählt er diese Geschichte: „Eines Morgens stellt K. fest, dass statt seines Kopfes ein Chinakohl auf seinen Schultern wächst. Als er in seiner neuen Erscheinung zum Medienstar und Sexobjekt wird, tritt er die Flucht ins Gemüsebeet an.“Um diese spektakuläre Story zu zeigen, braucht der Regisseur keine acht Stunden, sondern 59 Minuten. Geht doch.