Schwäbische Zeitung (Biberach)
Russlands Erwachen
Niemand kann heute sagen, ob die Antikorruptionsproteste am Sonntag in 82 russischen Städten eine neue Bewegung in Gang setzen könnten, die der autoritären Staatsmacht in naher Zukunft gefährlich werden wird. Sehr wahrscheinlich ist das jedoch nicht.
Solange Wladimir Putin in den Augen der meisten Russen ein Garant der politischen Stabilität und des bescheidenen Wohlstands bleibt, solange sein Machtapparat keine sichtbaren Schwachstellen aufweist und der Kreml die absolute Deutungshoheit in den Medien behält, ist Putins Wiederwahl als Präsident 2018 nicht gefährdet. Aber was dann? Seit Sonntag ist es denkbar, dass das Land aus seiner politischen Lethargie aufwacht und langfristig einen Entwicklungspfad einschlagen wird, der die Russen hin zur echten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führt.
Nicht die geringe Anzahl der Demonstranten, sondern ihr Alter müssen dem Kreml Sorgen bereiten. Das Gesicht der Proteste gegen den weithin rückständigen, korrumpierten Staat ist jung. Das ist neu. Die russische Jugend war politisch nie sehr aktiv. Ihre Geduld mit dem System scheint jetzt aber erschöpft zu sein. Sie teilt Putins Vision von Zukunft des Landes nicht – und hat keine Angst, den Autokraten öffentlich herauszufordern. Die repressiven Reaktionen der erschrockenen Staatsmacht werden den bürgerlichen Reifeprozess der jungen Menschen noch beschleunigen.