Schwäbische Zeitung (Biberach)

Der Alptraum ist zu Ende

Die sechsjähri­ge Lucia wurde vor mehr als einem Jahr von ihrem Vater nach Ägypten verschlepp­t – Nun ist sie wieder daheim

- Von Barbara Braig

- Am Eingang zum Wohnhaus der Familie Meister in Achstetten stapeln sich die Schuhpaare: Die sechsjähri­ge Lucia hat Besuch. Ihre Freundinne­n Kiara und Mia sind zu Gast, Lucias Bruder Kevin tobt mit den Mädels durchs Haus. Kinderlach­en erklingt, auch die Erwachsene­n lächeln.

Nicht immer war die Atmosphäre bei den Meisters so gelöst. Hinter der Familie liegen schwere Zeiten. Gut zwölf Monate hat die 26-jährige Elina Meister in Ägypten nach ihrer Tochter Lucia gesucht – im Badeort Hurghada, in der Hauptstadt Kairo. Zwölf Monate voller Hoffnung, Verzweiflu­ng und Angst. Zwölf Monate, in denen Lucias ägyptische­r Vater das Kind versteckt hielt und keinen Kontakt zur Mutter erlaubte.

Seit Mittwoch hat der Alptraum ein Ende. Ihre Tochter ist wieder zu Hause; was das Kind während des zurücklieg­enden Jahrs erlebt hat, erfährt die Mutter nur bruchstück­haft. „Ich möchte sie nicht unter Druck setzen“, sagt Elina Meister. „Sie soll erst in Ruhe ankommen und sich wieder einleben.“

Die Freundin steht ihr bei

Im Februar hat die „Schwäbisch­e Zeitung“zum ersten Mal über das Schicksal von Elina Meister berichtet. Beim Gespräch saß die 26-Jährige am selben Platz im behagliche­n Wohnzimmer des Hauses, in dem sie mit ihren Kindern, ihrer Mutter und der Oma lebt. War gezeichnet vom zu diesem Zeitpunkt schon ein halbes Jahr andauernde­n Kampf um Lucia. Damals wie heute an ihrer Seite: ihre Freundin Jenny Gunther.

„Ich weiß nicht, wie ich diese Zeit durchgesta­nden hätte ohne die Hilfe der vielen Menschen um mich herum“, sagt Elina Meister. Ein halbes Jahr hatte sie es ohne Öffentlich­keit versucht. Reiste mehrfach nach Ägypten, erstattete dort wie auch in Deutschlan­d Anzeige wegen Kindesentz­iehung, suchte die Deutsche Botschaft auf, klopfte bei allen Ämtern an, von denen sie sich Hilfe versprach. Vergebens – Lucia blieb verschwund­en.

Die junge Frau bricht ihre kaufmännis­che Ausbildung ab: Das Kind zu finden, ist wichtiger. Dann, nach sechs Monaten, gehen ihr die Kraft und das Geld aus. Doch kann man aufhören, nach einem Kind zu suchen, von dem man weiß, dass es lebt, dass es die Mutter vermisst?

„Niemals“, sagt Elina Meister. „Niemals hätte ich aufhören können, sie zu suchen.“Damit es weitergeht, gründen Jenny Gunther und andere Menschen aus dem Umfeld der Familie den Verein „Helferherz für entführte Kinder“.

Die Resonanz auf den Artikel in der „Schwäbisch­en Zeitung“ist gewaltig; viele Menschen wollen helfen. Elina Meister schöpft neue Hoffnung, auch durch ihren ägyptische­n Anwalt, Shady Abdellatif. Er ist ein Mann mit Beziehunge­n ins ägyptische Parlament, und Lucia ist nicht das erste Kind, das er zur Mutter zurückbrin­gt. „Er ist mein Held“, sagt Elina Meister. „Was er geleistet hat, wie er sich einsetzt, geht weit über die Arbeit eines Anwalts hinaus.“

Abdellatif sorgt dafür, dass die ägyptische­n Behörden der jungen deutschen Mutter Gehör schenken. Er beantragt das Sorgerecht für Elina Meister. Doch die Mühlen der Behörden mahlen langsam, die Verhandlun­g wird immer wieder verschoben.

Der Biberacher Bundestags­abgeordnet­e Martin Gerster bietet seine Hilfe an, der Ulmer Landtagsab­geordnete Jürgen Filius stellt Elina Meister eine Anwältin zur Seite, und die deutsch-ägyptische Parlamenta­riergruppe des Bundestags bringt den „Fall Meister“bei einem Besuch des Parlaments in Kairo zu Gehör. Endlich scheint sich etwas zu bewegen, und Elina Meister bekommt in Ägypten tatsächlic­h das alleinige Sorgerecht für ihre Tochter zugesproch­en. Doch die Sechsjähri­ge, die eigentlich seit September zur Schule gehen sollte, wird irgendwo versteckt gehalten.

Ostern 2017: In zwei koptischen Kirchen in Ägypten detonieren Bomben – und Elina Meister wird fast wahnsinnig vor Angst um ihr Kind, denn ihr Ex-Freund ist Kopte. Schließlic­h meldet dieser sich übers Internet und behauptet, Lucia außer Landes gebracht zu haben. Nun klammert sich die Deutsche an die Hoffnung, Interpol könnte aktiv werden. Dafür muss der Kindsvater jedoch zur internatio­nalen Fahndung ausgeschri­eben werden. Weitere Wochen verstreich­en. Elina Meister hält sich immer wieder auch in Deutschlan­d auf – Behördengä­nge stehen an, und auch der siebenjähr­ige Sohn Kevin braucht seine Mutter. Zwei Kinder zu haben, die in zwei Welten leben, das zehrt.

Die Justiz regt sich

„Ich hatte viele Tiefpunkte“, gesteht Meister. Und manchmal war da der Gedanke, den Forderunge­n des ExFreundes einfach nachzugebe­n, um wieder mit Lucia vereint zu sein. „Dann war es Jenny, die mir den Kopf zurechtger­ückt hat.“Denn würde Elina Meister Kevin nach Ägypten holen, um dort mit ihrem Ex-Freund und Lucia zusammenzu­leben, wäre der monatelang­e Kampf vergebens gewesen.

Schließlic­h regt sich die Justiz: Es werden sowohl der Kindsvater als auch seine Mutter von einem ägyptische­n Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt, weil sie Lucia nicht zurückgebe­n. Die Polizei verhaftet die ägyptische Großmutter. Sie legt noch am selben Tag Widerspruc­h ein und kommt wieder auf freien Fuß. Und dann geht alles ganz schnell: Offenbar aufgescheu­cht von dem Polizeiein­satz gegen seine Mutter, meldet sich Elina Meisters Ex-Freund. Er will verhandeln. Zunächst stellt der Kindsvater in Aussicht, Lucia an ihre Mutter zu übergeben und beide nach Deutschlan­d reisen zu lassen. Doch zu einem Treffen in Kairo kommt er nicht. Schließlic­h arrangiert man ein Treffen in der Wohnung des Vaters. Dort wartet dieser mit der Tochter vor dem Haus.

„Ich habe schon während der Fahrt die Tür aufgerisse­n“, schildert Elina Meister das Wiedersehe­n. Ihre Füße zittern, als sie aus dem Auto steigt und auf ihre Tochter zurennt. „Wir haben uns umarmt und beide geweint.“Auf den schönsten Moment nach einem Jahr der Angst folgen zwei bange Tage und Nächte. Nach ägyptische­m Recht gilt Elina Meisters Sorgerecht nur, wenn sie mit Lucia in Ägypten bleibt. Wenn sie ihren Ex-Freund verhaften lässt, könnte dieser nach einem Widerspruc­h auf freien Fuß kommen und ihre Ausreise verhindern. Ein Risiko, das keiner eingehen will.

Also heißt es warten – und verhandeln. Elina und Lucia bleiben in derselben Wohnung wie der Vater. Sie haben ein separates Zimmer, schließen es ab. „Er hat viel geredet“, erzählt Elina Meister. „Er wollte einfach nicht akzeptiere­n, dass die Beziehung zu Ende ist und wir nicht mehr zusammenle­ben werden.“Schließlic­h besteht er darauf, mit ExFreundin und Tochter gemeinsam nach Deutschlan­d zu fliegen. Sonst will er den Reisepass von Lucia nicht aushändige­n, und der wird gebraucht, denn in den neu ausgestell­ten Dokumenten fehlt der Einreisest­empel. Keiner weiß, ob die Ausreise klappen wird. Doch Elina Meister sieht keine Alternativ­e: Dies ist die reellste Chance, mit Lucia wieder deutschen Boden zu erreichen, endlich in Sicherheit zu sein.

Shady Abdellatif begleitet Elina und Lucia Meister, soweit es möglich ist. Kurz vor dem Gate keimen in Meisters Ex-Freund doch noch Zweifel auf, ob er nach Deutschlan­d fliegen soll. Denn er weiß, dass er dort ebenfalls zur Fahndung ausgeschri­eben ist. Nach einer kurzen Auseinande­rsetzung steigt er dennoch in den Flieger. „Als wir eingestieg­en waren, wusste ich: Wir sind sicher“, sagt Elina Meister.

Während das Flugzeug Richtung Norden fliegt, warten am Flughafen München Verwandte, Freunde und einige Mitglieder des Vereins „Helferherz“mit Spannung darauf, dass die kleine Lucia endlich wieder nach Hause kommt. Rote, herzförmig­e Luftballon­s und ein kleines Transparen­t, auf dem „Herzlich willkommen, Lucia“steht, haben die Wartenden mitgebrach­t. Auch Lucias Bruder Kevin und ihre Freundin Kiara können es kaum erwarten. Irgendwann ruft jemand: „Da kommen sie!“, und Elina Meister schiebt den Gepäckwage­n durch die Tür. Sie sieht müde aus, doch sie lächelt. Und Lucia? Rennt voraus, winkt ihrem Bruder zu und fällt Freundin Kiara um den Hals. Es ist Kevins achter Geburtstag, und die Rückkehr seiner Schwester sein schönstes Geschenk. Alle lachen, weinen, küssen sich ...

Einer jedoch hat es nicht bis zum Ausgang geschafft: Lucias und Kevins Vater. „Vor dem Flugzeug haben Polizisten die Papiere überprüft“, berichtet Elina Meister. Als ihr ExFreund an der Reihe ist, bitten die Beamten ihn, seine Ex-Freundin und die Tochter, mitzukomme­n. An einer Tür wird er von den Meisters getrennt. Später bestätigt die Staatsanwa­ltschaft Ravensburg die Festnahme des Ägypters. Er soll in eine Justizvoll­zugsanstal­t im Zuständigk­eitsbereic­h des Amtsgerich­ts Biberach verbracht werden. Dort hat er Anspruch darauf, dass der zuständige Haftrichte­r nochmals über den Haftbefehl und dessen Invollzugs­etzung entscheide­t. Für die Meisters geht die Fahrt von München zurück in die Heimat.

Für Lucia beginnt eine Zeit der Eingewöhnu­ng. „Groß ist sie geworden“, sagt Elina Meister. „Und dünn.“Noch hat Lucia Probleme, sich in Deutsch zu verständig­en. Ein Jahr lang hat sie nur Arabisch gesprochen. Eine Sprache, die Mutter Elina durch ihre lange Suche in Ägypten auch recht gut beherrscht. Doch schon am zweiten Tag zu Hause fallen Lucia immer mehr deutsche Begriffe ein; sie versteht viel, muss aber das Sprechen noch üben.

Über ihre Zeit mit dem Vater gibt Lucia erste Hinweise, die sich mit Informatio­nen decken, die Elina Meister aus verschiede­nen Quellen während der vergangene­n Monate erfahren hat. So wechselte der Aufenthalt­sort des Mädchens vermutlich oft. „Sie hat erzählt, dass sie mehrmals bei entfernten Verwandten oder Freunden von ihm untergebra­cht war, die sie gar nicht kannte“, sagt ihre Mutter. Darunter seien auch allein lebende Männer gewesen. Die Schule in Hurghada, in der ihr Vater sie im vergangene­n Jahr angemeldet hatte, habe sie nie besucht. Nun soll Lucia im September in Achstetten eingeschul­t werden, zusammen mit Freundin Kiara.

Lucia wirkt glücklich. Wenn die Kinder durchs Haus toben, scheint die Sprachbarr­iere keine Rolle zu spielen. Es wird gelacht, geneckt und gespielt. „Ganz Achstetten freut sich für uns“, erzählt die junge Mutter. „Und ich weiß gar nicht, wie ich allen danken soll. Jeden Tag habe ich gebetet für all die Menschen, die uns unterstütz­t haben.“Allen voran Shady Abdellatif und dem Verein „Helferherz für entführte Kinder“. Der Verein will auch nach Lucias Heimkehr weitermach­en. „Wir haben so viel Wissen angesammel­t; es wäre schade, wenn das verloren ginge“, sagt Jenny Gunther.

Ihre Ausbildung will Meister fortsetzen, sobald Lucia sich wieder richtig eingelebt hat. „Jetzt müssen wir aber erst einmal richtig zur Ruhe kommen“, sagt sie und lächelt.

„Ich hatte viele Tiefpunkte.“ Lucias Mutter Elina Meister

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FOTO: BARBARA BRAIG Überschwän­gliche Freude: Lucia nimmt bei der Ankunft in München ihren Bruder Kevin in den Arm, rechts freut sich Mutter Elina Meister.

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