Schwäbische Zeitung (Biberach)

Traurig, traurig

Streetart in Mainz: Ein Mädchen wandert als Comicfigur durch die Stadt der Lebensfreu­de

- Von Peter Zschunke

(dpa) - Schmuddelk­inder als heimliche Stars: „Die Fangemeind­e rund um Streetart wächst stetig an“, sagt der Hamburger Experte Sebastian Hartmann. Einige Graffitisp­rayer sind gefragt bei Galerien und Museen. Die meisten aber bleiben im Straßenrau­m, anonym und oft so rätselhaft wie der britische StreetartK­ünstler Banksy. Ein Geheimnis umgibt auch das „traurige Mädchen“, eine Motivserie, die in Mainz schon seit einigen Jahren die Fantasie der Betrachter bewegt. Bekannt ist nur, dass die Bilder von einer Frau gesprayt wurden.

„Jeder erzählt eine eigene Geschichte drumherum“, sagt die Mainzerin Kerstin Weber. „Einige vermuten dahinter eine unerwidert­e Liebe.“Die über die ganze Stadt verteilten Wandbilder sind wie Projektion­sflächen, in die Menschen eigene Empfindung­en und Sehnsüchte hineinträu­men können.

MAINZ Karte mit Standorten

Der Blogger Marcel Böhres hat eine Karte entwickelt, die alle Standorte der „traurigen Mädchen“verzeichne­t, zusammen mit Fotos der Darstellun­gen. Sie erscheinen gehäuft in der Neustadt, aber auch in der Altstadt und sind vereinzelt im Umland bis Bingen und Nieder-Olm zu finden. Auch in Köln, Berlin und Freiburg sollen sie aufgetauch­t sein.

Allen gemeinsam ist das schmale Gesicht mit spitzem Kinn und melancholi­schem Ausdruck, aber stets sieht das „traurige Mädchen“etwas anders aus. Sein Blick wirkt mal nachdenkli­ch, mal keck, mal unterstrei­cht er die Tristesse von urbanen Brachfläch­en und Mietshäuse­rn, die auch noch im Frühling von den Nöten ihrer Bewohner zu erzählen scheinen.

Wie ein Engel steht die Gestalt im grünen Kleid am Anfang einer steilen Treppe nahe der Altmünster­kirche in Mainz. In der Boppstraße trägt sie ein rot-gelbes Kleid; der bröckelnde Verputz der Wand vermittelt dort den Eindruck von zupackende­n Händen. Manchmal schmiegt sich die Figur in den beengten Raum des schmalen Pfostens einer Einfahrt. An einer tristen Hinterhofm­auer breitet sie sich einfarbig violett mit stilisiert­em Busen und wehenden Locken aus. Mitunter ergänzen „Tags“, das sind Signaturen anderer Graffitisp­rayer, die anmutige Darstellun­g des „traurigen Mädchens“.

„Das ist wirklich Kunst in meinen Augen“, sagt Kerstin Weber, die als Marketing-Leiterin eines Lebensmitt­elunterneh­mens mit offenen Augen durch die Stadt geht. „Für mich ist das ein tolles Stück Streetart.“Sie suche nicht gezielt danach, freue sich aber, wenn sie wieder ein neues Motiv entdecke: „Mir gibt das ein Stück Nähe zur Stadt.“

In der Stadtverwa­ltung wird die besondere ästhetisch­e Wirkung des „traurigen Mädchens“eingeräumt. „In ungenutzte­n Arealen kann das Umfeld so verschöner­t und bereichert werden“, sagt ein Sprecher. Auf privaten Häuserwänd­en seien Graffiti aber ein kostspieli­ges Ärgernis für die Besitzer und als Sachbeschä­digung ein Straftatbe­stand. Öffentlich­e Gebäude seien nicht so sehr betroffen. Auch habe die Stadt Flächen ausgewiese­n, auf denen sich Graffitisp­rayer legal betätigen könnten.

Aus anderen Städten kenne er das Motiv des „traurigen Mädchens“nicht, sagt der Experte Hartmann. Das Besondere daran sei die Variation. „Die meisten Streetart-Künstler erstellen Schablonen eines Motivs, das immer gleich aussieht.“Dass ein Motiv stetig variiert werde, kenne er sonst nur von den „Blue Heads“aus Düsseldorf – verschrobe­nen und chaotische­n Köpfen und Gesichtern in Blau.

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