Schwäbische Zeitung (Biberach)
Gemeinsam gegen Zeit und Raum
„Exit Games“werden immer beliebter – Ein Selbsttest im Rätselraum in Ravensburg
Mein Blick geht hektisch zur Uhr. Die Zeiger ticken gnadenlos. Die Zeit läuft. Und noch immer haben wir keine Lösung gefunden. 30 Minuten bleiben uns, um ein lebenswichtiges Medikament für einen Schwerkranken zu finden. Aber wir werden es nicht schaffen. Was für eine Blamage für uns Vertretungsärzte – und eine Katastrophe für den Patienten!
Doch keine Sorge: In Wirklichkeit ist kein Menschenleben in Gefahr. Die Situation gehört zu den sogenannten „Exit Games“in Ravensburg. Eine Stunde Zeit bekommt man bei diesem Spiel, um in einer Gruppe gemeinsam aus einem thematisch gestalteten Rätselraum zu entkommen. Das Prinzip dahinter ist immer dasselbe: Die Teams von sechs bis acht Spielern bekommen eine kurze Einleitung, in denen ihnen ein Problem geschildert wird. Zum Beispiel eine hypothetische Bombe, die entschärft werden muss, oder eine verschlossene Tür, für die man den Schlüssel finden muss. Dann gehen die Spieler ohne weitere Vorbereitung in den Raum. Und die Zeit läuft.
Innerhalb einer Stunde müssen sie Hinweise finden und Rätsel lösen. Der Gewinn ist meistens ein Schlüssel oder Code – und natürlich das Erfolgserlebnis in der Gruppe. In Ravensburg gehören zwei verschiedene Räume zu den „Exit Games“: Aus dem einen müssen die Spieler in der vorgegebenen Zeit aus dem Gefängnis ausbrechen, im anderen müssen sie ein Medikament finden. In unserem Fall hat der städtische Arzt Urlaub, erklärt uns der Spielleiter. Ein völlig verzweifelter Patient ruft bei uns in der Rolle als Vertretungsärzte an. Doch bevor wir wissen, wer er ist und was er genau braucht, bricht die Verbindung ab. Wir erfahren nur, dass er sein Medikament innerhalb einer Stunde benötigt. Und dieses befindet sich eingeschlossen im Safe in der Arztpraxis. Um den Schlüssel zum Safe zu finden, müssen wir nun Schritt für Schritt Rätsel lösen.
Ohne Hilfe geht es nicht
Die Tür der nachgebauten Arztpraxis schließt sich. Wir starren ratlos auf das Mobiliar. Ein alter Apothekerschrank voller Flaschen, Tinkturen und Säuren steht an einer Wand. Davor ein großer Tisch aus einer Praxis, gefüllt mit Unmengen an Tablettenschachteln und steril verpackten Spritzen. An der Wand gegenüber hängt ein Röntgenbild. Wir fühlen uns hilflos, wühlen durch Patientenakten, durchsuchen Bücher und finden – nichts. Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Jeder Gegenstand im Raum könnte etwas bedeuten – oder vom Spielleiter gezielt zur Verwirrung platziert worden sein. Wir entscheiden uns dafür, die Patientenakten durchzulesen. Einer davon muss ja schließlich der gesuchte sein. Hier und da finden sich Hinweise zwischen den aufgelisteten Symptomen: Bücherseiten zum Weiterlesen, Medikamentennamen, die wir suchen können. Vielleicht schaffen wir es doch? Voller Ehrgeiz legen wir los. Doch beinahe 30 Minuten sind vorbei. Bisher haben wir nur lose Ideen gesammelt. Wir rennen durch den Raum, suchen Gegenstände, stellen alles auf den Kopf. So langsam steigt der Adrenalinpegel.
Gehört Scheitern zum Spiel oder stellen wir uns besonders ungeschickt an? Die Zeit reicht nicht. Schließlich sehen wir es ein: Wir brauchen wohl Hilfe. Draußen wartet Johannes Schiller, der Betreiber der „Exit Games“in Ravensburg. Er steht bereit, um verzweifelten Spielern aus der Patsche zu helfen. Zweimal innerhalb der Stunde darf man ihn per Gegensprechanlage um Tipps bitten. Und er hat schon auf unseren Hilferuf gewartet: „Eigentlich schafft es kein Team ohne Hilfe, in der vorgegebenen Zeit das Rätsel zu lösen. Das ist ganz normal.“Denn ohne Erfahrung im Lösen von „Exit Games“brauche man einfach Zeit, um sich zu sammeln und eine Strategie zu entwickeln. „Kommunikation innerhalb des Teams ist am Wichtigsten“, rät Schiller. Seit knapp anderthalb Jahren betreibt er die Rätselräume in Ravensburg bereits. Er selbst hat dieses Spiel in einem Urlaub in Thailand kennengelernt. Danach war er so begeistert vom Spielekonzept, dass er ebenfalls „Exit Games“entwickeln wollte. Rund ein Jahr saß er an der Planung und Konzeption des ersten Raums – der Arztpraxis. Dann kam die Gefängniszelle dazu und im Moment tüftelt er noch einen dritten Raum aus. In diesem wird es um einen Geheimagenten gehen, der eine Bombe entschärfen muss. „16 Teams haben den neuen Raum schon probeweise gespielt“, erzählt Schiller. „Doch bisher haben es erst sechs Teams geschafft, das Rätsel zu lösen.“Schiller überarbeitet die Aufgaben noch einmal. Die anderen beiden Räume, die er anbietet, hätten sich aber bewährt: „Die schnellste Gruppe war mal innerhalb von 34 Minuten und ohne Tipps fertig“, erinnert sich der Spielleiter. Im Schnitt bräuchten die Spieler aber die volle Stunde und beide Hilfestellungen. Gedacht sind die Spiele jeweils für Teams von sechs bis acht Spielern pro Raum. Zum Glück, denke ich mir. Dann sind wir wohl zu wenige und kommen deshalb so langsam voran. Rund 40 Gruppen kommen etwa pro Monat – Jugendliche, Familien, Junggesellenabschiede und auch Arbeitskollegen. Und bei dieser bunten Mischung hat Schiller in seinen Rätselräumen schon alles erlebt. „Manche geraten, wenn die Zeit knapp wird, in blinden Aktionismus. Manchmal muss ich schon aufpassen, dass meine Einrichtung nicht komplett zerlegt wird.“Sieben Tage die Woche bietet Schiller seine „Exit Games“an, meistens werden sie am Wochenende gebucht.
Vom Computerspiel zur Realität
Entstanden sind die sogenannten „Exit Games“, auch „Escape Rooms“oder „Live Escape“-Spiele genannt, bereits in den 1980er-Jahren in Form von Computerspielen. Populär wurden sie, als der Japaner Toshimitsu Takagi mit „Crimson Room“eine Spielversion aus der Ichperspektive schuf. Der Spieler musste nun in einem abgeschlossenen Raum ein Rätsel lösen und wieder herausfinden. Bald darauf wurden die „Exit Games“in die Realität geholt: Etwa ab 2006 entstanden reale Rätselräume in den USA und in Japan.
Manchmal muss ich schon aufpassen, dass meine Einrichtung nicht komplett zerlegt wird. Johannes Schiller, Betreiber der „Exit Games“in Ravensburg, über den Ehrgeiz seiner Kundschaft.
Die ersten kommerziell betriebenen „Exit Games“in Europa starteten 2011 in Ungarn, zwei Jahre später kamen sie auch in Deutschland an. Weltweit liegt aber dasselbe Prinzip zugrunde: Innerhalb einer bestimmten Zeit muss das Team Rätsel lösen und so aus einem Raum entkommen.
Das wollen wir auch schaffen. Ohne den Raum zu zerlegen. Der Ehrgeiz hat uns mittlerweile gepackt – und die Tipps helfen weiter. Ein AhaErlebnis jagt das nächste: Michael findet einen Schlüssel. Paul entdeckt, was es eigentlich mit den Tinkturen im Apothekerschrank auf sich hat. „Kommt, noch zehn Minuten. Wir schaffen das,“rufe ich und wühle weiter in leeren Tablettenschachteln. Aber wir arbeiten zu unkoordiniert, tauschen unsere Informationen nicht vollständig aus. Und schließlich sind die 60 Minuten vorbei. Als Johannes Schiller uns die letzten beiden Schritte erklärt, die uns zur Rettung des Patienten noch gefehlt haben, ist die Lösung doch ganz logisch. „Eigentlich hätten wir das schaffen müssen. Eigentlich haben wir das doch gewusst“, ist unser Fazit. Eigentlich. Aber stolz sind wir trotzdem. Einige Lösungen haben wir ja schließlich gefunden. Vielleicht gehen wir bald strategischer vor – beim nächsten Raum.