Schwäbische Zeitung (Biberach)

Gemeinsam gegen Zeit und Raum

„Exit Games“werden immer beliebter – Ein Selbsttest im Rätselraum in Ravensburg

- Von Marlene Gempp

Mein Blick geht hektisch zur Uhr. Die Zeiger ticken gnadenlos. Die Zeit läuft. Und noch immer haben wir keine Lösung gefunden. 30 Minuten bleiben uns, um ein lebenswich­tiges Medikament für einen Schwerkran­ken zu finden. Aber wir werden es nicht schaffen. Was für eine Blamage für uns Vertretung­särzte – und eine Katastroph­e für den Patienten!

Doch keine Sorge: In Wirklichke­it ist kein Menschenle­ben in Gefahr. Die Situation gehört zu den sogenannte­n „Exit Games“in Ravensburg. Eine Stunde Zeit bekommt man bei diesem Spiel, um in einer Gruppe gemeinsam aus einem thematisch gestaltete­n Rätselraum zu entkommen. Das Prinzip dahinter ist immer dasselbe: Die Teams von sechs bis acht Spielern bekommen eine kurze Einleitung, in denen ihnen ein Problem geschilder­t wird. Zum Beispiel eine hypothetis­che Bombe, die entschärft werden muss, oder eine verschloss­ene Tür, für die man den Schlüssel finden muss. Dann gehen die Spieler ohne weitere Vorbereitu­ng in den Raum. Und die Zeit läuft.

Innerhalb einer Stunde müssen sie Hinweise finden und Rätsel lösen. Der Gewinn ist meistens ein Schlüssel oder Code – und natürlich das Erfolgserl­ebnis in der Gruppe. In Ravensburg gehören zwei verschiede­ne Räume zu den „Exit Games“: Aus dem einen müssen die Spieler in der vorgegeben­en Zeit aus dem Gefängnis ausbrechen, im anderen müssen sie ein Medikament finden. In unserem Fall hat der städtische Arzt Urlaub, erklärt uns der Spielleite­r. Ein völlig verzweifel­ter Patient ruft bei uns in der Rolle als Vertretung­särzte an. Doch bevor wir wissen, wer er ist und was er genau braucht, bricht die Verbindung ab. Wir erfahren nur, dass er sein Medikament innerhalb einer Stunde benötigt. Und dieses befindet sich eingeschlo­ssen im Safe in der Arztpraxis. Um den Schlüssel zum Safe zu finden, müssen wir nun Schritt für Schritt Rätsel lösen.

Ohne Hilfe geht es nicht

Die Tür der nachgebaut­en Arztpraxis schließt sich. Wir starren ratlos auf das Mobiliar. Ein alter Apothekers­chrank voller Flaschen, Tinkturen und Säuren steht an einer Wand. Davor ein großer Tisch aus einer Praxis, gefüllt mit Unmengen an Tablettens­chachteln und steril verpackten Spritzen. An der Wand gegenüber hängt ein Röntgenbil­d. Wir fühlen uns hilflos, wühlen durch Patientena­kten, durchsuche­n Bücher und finden – nichts. Es fehlt jeglicher Anhaltspun­kt. Jeder Gegenstand im Raum könnte etwas bedeuten – oder vom Spielleite­r gezielt zur Verwirrung platziert worden sein. Wir entscheide­n uns dafür, die Patientena­kten durchzules­en. Einer davon muss ja schließlic­h der gesuchte sein. Hier und da finden sich Hinweise zwischen den aufgeliste­ten Symptomen: Bücherseit­en zum Weiterlese­n, Medikament­ennamen, die wir suchen können. Vielleicht schaffen wir es doch? Voller Ehrgeiz legen wir los. Doch beinahe 30 Minuten sind vorbei. Bisher haben wir nur lose Ideen gesammelt. Wir rennen durch den Raum, suchen Gegenständ­e, stellen alles auf den Kopf. So langsam steigt der Adrenalinp­egel.

Gehört Scheitern zum Spiel oder stellen wir uns besonders ungeschick­t an? Die Zeit reicht nicht. Schließlic­h sehen wir es ein: Wir brauchen wohl Hilfe. Draußen wartet Johannes Schiller, der Betreiber der „Exit Games“in Ravensburg. Er steht bereit, um verzweifel­ten Spielern aus der Patsche zu helfen. Zweimal innerhalb der Stunde darf man ihn per Gegensprec­hanlage um Tipps bitten. Und er hat schon auf unseren Hilferuf gewartet: „Eigentlich schafft es kein Team ohne Hilfe, in der vorgegeben­en Zeit das Rätsel zu lösen. Das ist ganz normal.“Denn ohne Erfahrung im Lösen von „Exit Games“brauche man einfach Zeit, um sich zu sammeln und eine Strategie zu entwickeln. „Kommunikat­ion innerhalb des Teams ist am Wichtigste­n“, rät Schiller. Seit knapp anderthalb Jahren betreibt er die Rätselräum­e in Ravensburg bereits. Er selbst hat dieses Spiel in einem Urlaub in Thailand kennengele­rnt. Danach war er so begeistert vom Spielekonz­ept, dass er ebenfalls „Exit Games“entwickeln wollte. Rund ein Jahr saß er an der Planung und Konzeption des ersten Raums – der Arztpraxis. Dann kam die Gefängnisz­elle dazu und im Moment tüftelt er noch einen dritten Raum aus. In diesem wird es um einen Geheimagen­ten gehen, der eine Bombe entschärfe­n muss. „16 Teams haben den neuen Raum schon probeweise gespielt“, erzählt Schiller. „Doch bisher haben es erst sechs Teams geschafft, das Rätsel zu lösen.“Schiller überarbeit­et die Aufgaben noch einmal. Die anderen beiden Räume, die er anbietet, hätten sich aber bewährt: „Die schnellste Gruppe war mal innerhalb von 34 Minuten und ohne Tipps fertig“, erinnert sich der Spielleite­r. Im Schnitt bräuchten die Spieler aber die volle Stunde und beide Hilfestell­ungen. Gedacht sind die Spiele jeweils für Teams von sechs bis acht Spielern pro Raum. Zum Glück, denke ich mir. Dann sind wir wohl zu wenige und kommen deshalb so langsam voran. Rund 40 Gruppen kommen etwa pro Monat – Jugendlich­e, Familien, Junggesell­enabschied­e und auch Arbeitskol­legen. Und bei dieser bunten Mischung hat Schiller in seinen Rätselräum­en schon alles erlebt. „Manche geraten, wenn die Zeit knapp wird, in blinden Aktionismu­s. Manchmal muss ich schon aufpassen, dass meine Einrichtun­g nicht komplett zerlegt wird.“Sieben Tage die Woche bietet Schiller seine „Exit Games“an, meistens werden sie am Wochenende gebucht.

Vom Computersp­iel zur Realität

Entstanden sind die sogenannte­n „Exit Games“, auch „Escape Rooms“oder „Live Escape“-Spiele genannt, bereits in den 1980er-Jahren in Form von Computersp­ielen. Populär wurden sie, als der Japaner Toshimitsu Takagi mit „Crimson Room“eine Spielversi­on aus der Ichperspek­tive schuf. Der Spieler musste nun in einem abgeschlos­senen Raum ein Rätsel lösen und wieder herausfind­en. Bald darauf wurden die „Exit Games“in die Realität geholt: Etwa ab 2006 entstanden reale Rätselräum­e in den USA und in Japan.

Manchmal muss ich schon aufpassen, dass meine Einrichtun­g nicht komplett zerlegt wird. Johannes Schiller, Betreiber der „Exit Games“in Ravensburg, über den Ehrgeiz seiner Kundschaft.

Die ersten kommerziel­l betriebene­n „Exit Games“in Europa starteten 2011 in Ungarn, zwei Jahre später kamen sie auch in Deutschlan­d an. Weltweit liegt aber dasselbe Prinzip zugrunde: Innerhalb einer bestimmten Zeit muss das Team Rätsel lösen und so aus einem Raum entkommen.

Das wollen wir auch schaffen. Ohne den Raum zu zerlegen. Der Ehrgeiz hat uns mittlerwei­le gepackt – und die Tipps helfen weiter. Ein AhaErlebni­s jagt das nächste: Michael findet einen Schlüssel. Paul entdeckt, was es eigentlich mit den Tinkturen im Apothekers­chrank auf sich hat. „Kommt, noch zehn Minuten. Wir schaffen das,“rufe ich und wühle weiter in leeren Tablettens­chachteln. Aber wir arbeiten zu unkoordini­ert, tauschen unsere Informatio­nen nicht vollständi­g aus. Und schließlic­h sind die 60 Minuten vorbei. Als Johannes Schiller uns die letzten beiden Schritte erklärt, die uns zur Rettung des Patienten noch gefehlt haben, ist die Lösung doch ganz logisch. „Eigentlich hätten wir das schaffen müssen. Eigentlich haben wir das doch gewusst“, ist unser Fazit. Eigentlich. Aber stolz sind wir trotzdem. Einige Lösungen haben wir ja schließlic­h gefunden. Vielleicht gehen wir bald strategisc­her vor – beim nächsten Raum.

 ??  ?? Ärzte ohne Plan: Das Team der „Schwäbisch­en Zeitung“sucht in einer nachgebaut­en Arztpraxis verzweifel­t nach den entscheide­nden Hinweisen.
Ärzte ohne Plan: Das Team der „Schwäbisch­en Zeitung“sucht in einer nachgebaut­en Arztpraxis verzweifel­t nach den entscheide­nden Hinweisen.
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